Twitter-Ersatz Bluesky: Toxic Positivity
Die Harmonie auf dem Ersatz-Twitter Bluesky verzerrt den Blick auf die Realität. Das beweisen die polarisierten Online-Reaktionen auf Habecks Besuch bei Caren Miosga.
E s war ein großes Wiedersehen in den letzten Wochen, von X-Gefrusteten auf der Plattform Bluesky. Doch die Freude über den neu erblühten, nun als irgendwie demokratisch geltenden Twitter-Ersatz, hat Schattenseiten.
Nach Elon Musks völlig enthemmter Wahlkampagne für Donald Trump hatten sich immer mehr Menschen von X verabschiedet – jener Plattform, die zum globalen Standardmedium aufgestiegen war, bis der Milliardär sie 2022 gekauft und sie seither ruiniert hat.
Die US-Wahl brachte der Abwanderung zur Alternative Bluesky einen neuen Schub: Millionen schlossen ihre X-Accounts, angewidert von Musks Hetze, der Penetranz seiner Zehntausenden Tweets und der offenkundig von ihm angeordneten, unverhohlenen algorithmischen Bevorzugung rechtsextremer, misogyner, verschwörungsideologischer Inhalte.
Das schon 2021 – durch eine Initiative von Twitter selbst – an den Start gegangene, aber bisher recht verschlafene Bluesky verdoppelte seit Ende Oktober seine Nutzerzahl auf rund 21 Millionen.
„Gottlos weggeblockt“
Viele freuten sich, auf Bluesky alte Twitter-Bekanntschaften wiederzusehen, die sich still von X zurückgezogen hatten. Und viele betonten, wie freundlich-konstruktiv es auf Bluesky nun zugehe, ganz anders als zuletzt bei X, wo der allgemeine Tonfall das Etikett „toxisch“ zweifellos verdient.
Viele hoffen, das möge so bleiben. Und so wurde sich in „Starterpacks“ genannten Listen freundlichst gegenseitig empfohlen, auf dass die alten Bubbles wieder zueinander finden mögen.
Flankiert wurde dies vom Bemühen, Bluesky „sauber“ zu halten: „Du bist #neuhier?? Willkommen!“ schrieb etwa ein Account namens Schattenspiele. „Bester Tipp: Halte deine Timeline sauber! Rechte, Schwurbelköppe und Trolle werden einfach ignoriert, nicht geteilt, nicht besprochen, sondern einfach gottlos weggeblockt“, empfahl er weiter. „#Wirsindmehr“ und damit das so bleibe, „folgen sich Demokrat*innen untereinander.“
Bluesky als Echokammer
Der Post fasste die Stimmung sehr gut zusammen. Genüsslich und unter allgemeinem Applaus wurden Blocklisten und -empfehlungen auf Bluesky herumgeschickt. Alle schienen sich einig: Auf keinen Fall dürfe die Plattform zur selben Hassmaschine verkommen wie X.
Doch diese Säuberungsbemühungen haben eine Schattenseite. Zu besichtigen war die etwa bei den Reaktionen auf den ARD-Talk von Robert Habeck bei Caren Miosga am Sonntagabend: Bei Bluesky waren viele schwer von dem „eloquenten“ Grünen „beeindruckt“, hashtaggten sich mit #TeamHabeck. Miosga habe beim Versuch, Habeck bloßzustellen, „versagt“. Habeck sei einer der wenigen Politiker Deutschlands, die Verantwortung übernehmen, ehrlich kommunizieren und Kanzler „kann“.
Wer eher progressiv tickt, dürfte beim Lesen beifällig genickt und Hoffnung geschöpft haben: Wenn das hier nun alle so sehen, wer weiß, vielleicht ist eine Kanzlerschaft Merz’ ja doch noch zu verhindern. Es dürfte etwa das gleiche Gefühl gewesen sein, das viele beim Konsum der zunächst hoffnungsfrohen deutschen Medienberichte über den Wahlkampf von Kamala Harris bekommen hatten.
Polarisierte Lager
Auf Twitter hingegen war es wie in der dunklen Paralleldimension der Netflix-Serie „Stranger Things“: In ihr sind die gleichen Dinge, aber sie sind komplett verdüstert und bedrohlich überzogen von einer Art radioaktivem Staub.
Unter dem Hashtag #Miosga wurde sich über den Talk ausgekotzt. Habeck galt als der „gefährlichste Politiker Deutschlands“, als „unverschämt“, „unerträglich“, „Clown“, „Versager“. Miosga habe sich ihm angebiedert und der ÖRR habe, wie üblich, „versagt“, weil niemand da war, um „seine Lügen zu unterbrechen“.
Nun ließe sich sagen: Ist doch schön, so hat nun jeder seine Bubble. Doch die Lager sind heute so derart polarisiert, dass ein liberal-demokratisches Milieu auf Bluesky viel zu schnell vergisst, wie viele „die anderen“ heute sind, wie groß deren Ablehnung progressiver Positionen ist. Wer nur von seinesgleichen liest, bekommt ein gefährlich stark verzerrtes Bild der Meinungsrealität, merkt das aber nicht mehr.
Die Folge ist absehbar: Entwicklungen werden unterschätzt oder ganz übersehen. In der Vergangenheit waren viele von den Trump-Wahlen oder dem Brexit vor allem deshalb so überrascht, weil sie sich nur innerhalb ihrer eigenen Meinungsblase informiert hatten – schon aus „Mental Health“-Gründen. Doch wer verpasst, wie sich Stimmungen wandeln, verliert die Fähigkeit zur Intervention.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity