Tunesien nach dem Friedensnobelpreis: Stolz und Sorge in Tunis
Bei tunesischen AktivistInnen löst die Vergabe des Friedensnobelpreises gemischte Gefühle aus. Denn die aktuelle politische Lage sorgt sie.
Das sehen auch andere so: „Das Dialog-Quartett hat sich rechtzeitig vor dem Beginn der Wahlkämpfe zurückgezogen und politische Polarisierung vermieden“, lobt Amna Guellali von der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch, die täglich neue Fälle von Folter und willkürlichen Verhaftungen auf ihrem Schreibtisch liegen hat. „Anders als in Libyen und Ägypten haben sowohl die Vertreter des religiösen Islam als auch die ehemaligen Regimevertreter im letzten Moment den Kompromiss gesucht.“
Viele Aktivisten wie Guellali und Jaouahdou fürchten, dass nach den Anschlägen von Sousse der tunesische Sonderweg verloren gehen könnte. Am Strand des Ferienortes kamen am 26. Juni 38 Touristen ums Leben. Während des nach der Attacke ausgerufenen Ausnahmezustandes wurden mehr als 3000 Verdächtige aus den zahlreichen islamistischen Netzwerken verhaftet.
„Es reicht manchmal schon, einen Bart zu tragen, um ins Visier der Behörden zu geraten, die noch aus der Ben-Ali-Zeit kommen“, sagt Kouraish Jaouahdou, der seit der ersten freien Parlamentswahl als Wahlbeobachter arbeitet.
Verdächtige Extremisten werden freigelassen
Während vor allem im von der Tourismuskrise hart getroffenen Südwesten Tunesiens das strikte Vorgehen der Polizei die mehrheitlich arbeitslose Jugend sogar verstärkt in den religiösen Widerstand und damit in die Gefängnisse treibt, gingen die Ermittlungen zu den Anschlägen in Sousse und dem Bardo-Museum ins Leere. Auch die Verdächtigen der Attacke auf das Museum in Tunis vom Februar wurden wie viele religiöse Extremisten in Sousse wieder freigelassen.
In den Cafés der Hauptstadt ist man sich sicher, dass Beamte im Innenministerium geschmiert oder der Geheimdienst in die Attentate verstrickt ist. Beweise für diese Verschwörungstheorie wollte der Moderator eines bekannten TV Senders aufdecken. Am vergangenen Sonntag durchlöcherten ein Dutzend Kugeln das Auto des Inhabers des Senders und Abgeordneten Rida Chareffedine, als er auf eine Landstraße nach Sousse einbog. „Eine Warnung“, so der liberale Ridha Charfeddine, der für die Regierungspartei Nidaa Tounès im Parlament sitzt.
Mit der Lage in Libyen, von wo immer mehr tunesische IS-Anhänger zurückkehren, und der seit Jahresbeginn massiv gestiegenen Arbeitslosigkeit, fühlen sich die Aktivisten zunehmend unwohl. Nach Europa auszuwandern ist nach den Anschlägen das wichtigste Thema der Jugend. „Der Nobelpreis könnte Motivation für die junge Generation sein, die mit ihrem zivilem Engagement das Land bisher aus der Gewalt der Nachbarländer heraus gehalten hat“, hofft Kouraish Jaouahdou.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört