Türkische Invasion in Syrien: Deutsche ExtremistInnen flüchtig
Nach der Türkei-Invasion sind in Syrien auch deutsche IS-AnhängerInnen aus der Haft entkommen. Wo sie sich befinden, weiß keiner.
Das Auswärtige Amt bestätigt inzwischen die Fluchten. „Die der Bundesregierung vorliegenden Informationen legen nahe, dass sich unter den aus kurdischen Gefangenenlagern in Nordsyrien entkommenen IS-Anhängerinnen und -Anhängern auch deutsche Staatsangehörige befinden“, heißt es auf eine FDP-Anfrage. Zahlen nennt das Amt nicht.
Insgesamt sollen zuletzt laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte fast 800 IS-UnterstützerInnen das Lager Ain Issa im Norden Syriens verlassen haben. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes lebte dort eine einstellige Anzahl Deutscher.
Am Mittwoch erklärte der US-Syriengesandte James Jeffrey, dass insgesamt inzwischen mehr als ein hundert IS-AnhängerInnen entkommen seien. Die USA hätten keine Kenntnisse darüber, wo sich diese Dschihadisten aufhielten.
Eine der zuletzt geflüchteten Deutschen ist die 29-jährige Elina F. aus Hamburg, die 2013 mit ihrem Freund zum sogenannten Islamischen Staat nach Syrien gezogen war. Dort soll sie per Video zur Ausreise in den Dschihad geworben haben. Der Stern, der zuletzt noch Kontakt zu ihr hatte, berichtete, dass F. aus einer russlanddeutschen Familie stammt und zum Islam konvertierte. Seit Anfang 2018 habe sie mit ihren beiden Söhnen in Ain Issa gelebt. Nach eigenen Angaben soll sie sich inzwischen vom Islam losgesagt haben und Syrien verlassen wollen.
„Nun hat man das Chaos“
Claudia Dantschke vom Verein „Hayat“, der Angehörige von Ausgereisten berät, hält Kontakt zu Frauen, die in syrischen Lagern sitzen. Zwei der Entkommenen sind auch dabei, eine von ihnen soll mit Elina F. unterwegs sein. Dantschke sagt dazu nur: Wo die Frauen jetzt seien, wisse sie nicht. „Der Kontakt ist am Freitag abgebrochen.“
Anwalt Mahmut Erdem, der mehrere Familien von zum IS ausgereisten Deutschen vertritt, berichtet auch von einem Mann, Fatih A., der aus Ain Issa geflohen sei. Er habe dies von kurdischen Kontaktleuten erfahren. A. soll im Herbst 2015 von Hamburg nach Syrien ausgereist sein. Seit Monaten bemühe er sich um eine Rückholung der IS-Anhänger, ohne dass die Bundesregierung reagiere, klagt Erdem. „Nun hat man das Chaos. Das ist unverantwortlich.“
Auch Dantschke übt harte Kritik. „Ich mache das Auswärtige Amt und Außenminister Heiko Maas persönlich für die aktuelle Entwicklung verantwortlich.“ Die Regierung habe zwei Jahre auf Zeit gespielt. „Jetzt besteht die Gefahr, dass einige verschwinden und wir nicht wissen, wo sie sind.“
Auch der FDP-Innenpolitiker Benjamin Strasser wirft der Regierung vor, das Problem ausgesessen zu haben, mit nun womöglich fatalen Folgen. „So wird die Große Koalition durch Nichtstun zu einem Sicherheitsrisiko, nicht nur für unser Land.“
Über hundert Deutsche sitzen in den Lagern
Die Bundesregierung zählt derzeit 111 deutsche IS-AnhängerInnen, darunter rund 70 Frauen, und 160 Kinder, die in kurdischen Lagern sitzen – die meisten in al-Hol, nahe der irakischen Grenze. Die Meldungen über Ausbrüche verfolge man „mit großer Sorge“, sagte ein Sprecher das Auswärtigen Amtes zuletzt. Der Tagesspiegel zitierte zudem einen Sicherheitsexperten, wonach bei circa 120 ausgereisten, deutschen IS-AnhängerInnen, darunter 25 Frauen, der Aufenthaltsort derzeit unbekannt sei.
Über die Rückholung der Deutschen wird seit Langem gestritten. Juristisch haben deutsche Staatsbürger ein Recht auf Wiedereinreise. Doch die Bundesregierung zögert – aus Angst, sich potenzielle Attentäter ins Land zu schaffen. Bislang hat sie aus Syrien erst drei Waisenkinder und ein schwer krankes Baby zurückgeholt. Zuletzt forderten aber auch Innenexperten der Union oder SPD-Innenminister Boris Pistorius weitere Rückholungen.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) wies am Mittwoch die Forderungen zurück. Die Sicherheit Deutschlands stehe an erster Stelle, sagte er im Bundestag. „Und wer ausgezogen ist, um gegen dieses Land, seine Werteordnung und seine Grundordnung zu kämpfen, da kann ich nicht die Arme ausbreiten und sagen: Kommt alle wieder zurück.“
Womöglich zwingt indes bald das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Bundesregierung zum Handeln: Dort klagt eine IS-Anhängerin mit ihren Kindern auf Rückkehr – und bekam in erster Instanz recht. Bleibt es dabei, muss die Regierung dann möglicherweise mit dem syrischen Diktator Assad über die Rückführung deutscher Staatsbürger verhandeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers