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Tübingens OberbürgermeisterPalmer geht, Problem bleibt

Lukas Wallraff
Kommentar von Lukas Wallraff

Der Parteiaustritt von Boris Palmer ist von den Grünen begrüßt worden. Für klare Haltung in der Flüchtlingspolitik braucht es mehr Courage.

Kundgebung in Tübingen gegen den „grünen“ Oberbürgermeister Palmer im Mai 2021 Foto: ULMER/picture alliance

E ndlich ist er weg. Die Erleichterung über den Parteiaustritt von Boris Palmer ist bei vielen Grünen spürbar. Und verständlich. Viel zu oft hat der wichtigste Tübinger OB der Welt mit vulgären Ausfällen und rabiater Rhetorik gegen Minderheiten den politischen Diskurs vergiftet und das Image der Grünen als humanitäre Vorzeigepartei beschädigt. Wenigstens damit ist jetzt Schluss.

Mit seinem Abgang hat Palmer die Grünen von ihrem seit Jahren ungelösten Problem befreit, wie sie ihr peinliches Mitglied möglichst geräuschlos und gerichtsfest loswerden können. Die rote Linie hat er jetzt praktischerweise selbst gezogen. Interessanterweise nicht, weil Palmer zum x-ten Mal absichtlich provozierend das N-Wort rausbellte. Sondern weil er die ihrerseits unangemessenen „Nazi“-Beschimpfungen durch seine Gegner mit einem „Judenstern“ verglich.

Ein geschichtsvergessener Tabu­bruch, mit dem man sich in Deutschland zu Recht unmöglich macht. Palmer hätte wissen müssen, dass ihn danach selbst seine treuesten grünen Freunde nicht mehr verteidigen konnten. Gut, dass sich Palmer jetzt eine Auszeit nimmt und professionelle Hilfe holt.

Für die Grünen, die ihrem ewigen Störenfried nun wie Parteichef Omid Nouripour zum Abschied noch „ein gutes Leben“ wünschen, scheint der Fall Palmer zwar erledigt. Doch das gibt ihnen nur eine kurze Verschnaufpause. Die wahren, strukturellen Probleme für die Regierungspartei beginnen erst – wenn es um die Flüchtlings- und Migrationspolitik der Ampel geht. Die Herausforderungen auf diesem Feld zeigen sich täglich drängender.

Die Grünen brauchen Ausdauer und Mut

Es wirkt fast wie eine Ironie des grünen Schicksals, dass sie die Partei genau an jenem wunden Punkt treffen, den Palmer mit seinen ressentimentgetriebenen Tiraden gegen Geflüchtete offengelegt hat: die wachsende Diskrepanz zwischen dem hehren moralischen Anspruch der Grünen und realer Regierungspolitik. Selbst die grün regierte Stadt Hannover hat kürzlich erklärt, keinen Platz für Geflüchtete mehr zu haben.

Just am selben Tag, an dem Palmer stürzte, verkündete Innenministerin Nancy Faeser (SPD), dass die Ampel ab sofort verstärkt für Asylverfahren schon an den EU-Außengrenzen eintrete. Die FDP fordert, man müsse „irreguläre Migration unterbinden“. Was nun, Grüne? Die latent rassistischen Ausfälle Palmers zu verurteilen war einfach, da war man sich schnell einig.

Wenn sich die Grünen aber dem Begrenzungsdruck entgegenstellen möchten, bräuchten sie Ausdauer, Überzeugungskraft, Geld und viel mehr Mut, als sich von einem hemmungslosen Provokateur zu distanzieren, der sich selbst ins Aus geschossen hat.

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Lukas Wallraff
taz.eins- und Seite-1-Redakteur
seit 1999 bei der taz, zunächst im Inland und im Parlamentsbüro, jetzt in der Zentrale. Besondere Interessen: Politik, Fußball und andere tragikomische Aspekte des Weltgeschehens
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10 Kommentare

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  • Nicht einmal die Einreise der Ortskräfte aus Afghanistan und von deren Familien kriegt das Dreamteam (zu deutsch in etwa: Traumtänzerpaar) Baerbock/Faeser auf die Reihe. Sieht sehr aus, wie was es wohl ist: gewollt. Eklig.

  • Die Grünen brauchen in der Tat mehr Courage. Sobald denen irgendwer ein Stöckchen hinhält, springen sie drüber oder noch schlimmer: sie kriechen drunter her. Die CDU macht das in Hessen vor, die SPD in Hamburg und die FDP im Bund. Wenn das so weitergeht, dann brauchen die bald einen Strohhalm und kein Stöckchen mehr....

  • > das Image der Grünen als humanitäre Vorzeigepartei beschädigt



    Das Image vielleicht, kann schon sein. Und was steckt hinter diesem publizistisch besonders gestützten Selbstbild? Treten Sie einfach mal in Tübingen und in Berlin auf die Straße und sehen Sie sich um. Na? Das Hauptproblem an Palmer war schon immer, wie er allen anderen Grünen Berufspolitikern auf peinliche Weise den Spiegel vorhält. Alles weitere ist passender Vorwand.



    Der Verlust des Parteibuchs wäre für manche ein Schlag und das Ende jeder Karrieremöglichkeit. Zu denen gehört Palmer aber nicht, der findet jederzeit etwas außerhalb der parteilichen Pöstchenschieberei.

    • @Axel Berger:

      Tübingen ist ein Dorf im schwäbischen Wirtschaftswunderländle und Berlin eine Großstadt mit vielen strukturellen Problemen, wo es auch nie einen grünen OB gab. Der Vergleich hinkt also gewaltig. Tübingen würde es auch ohne Palmer prächtig gehen. Es ist schlicht eine extrem attraktive Universitätsstadt, eingebettet in eine im Kern sehr konservative Wirtschaftswunderboomregion. Da kann man natürlich auch jahrelang gegen Minderheiten hetzen wenn man sonst keine großen Fehler begeht.

      • @schnarchnase:

        Natürlich, da unten im Süden sind alle Universitäts- und Industriestädte perfekt und von den Berliner Problemen ist kein einziges hausgemacht -- klar doch.

        • @Axel Berger:

          Wirtschaftlich können die meisten vor Kraft kaum laufen. Da muss man sich als OB schon sehr blöd anstellen um das ins negative zu verkehren.

  • Was denken Menschen wirklich? Was ist daraus abzuleiten, wie ist eine Prognose im Hinblick auf ein Wahlverhalten möglich? Der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm, zunächst Mitglied der Frankfurter Schule, hatte in der ersten Phase unter Max Horkheimer eine Studie vorgelegt, die sich mit den Einstellungen von Gruppen, ihren politischen Motiven und Wünschen befasste. Die Schlussfolgerungen waren erstaunlich, die skizzierte düstere Prognose wurde Realität. Heute sehen wir in demoskopischen Untersuchungen vermehrt, dass vermeintlich erwartungsgemäß geantwortet wird, manche Motive erschließen sich dadurch nicht wirklich. Daher gibt es Fehler in Prognosen. Unangenehme Wahrheiten aufzudecken kann hilfreich sein.

  • "Die rote Linie hat er jetzt praktischerweise selbst gezogen.



    Interessanterweise nicht, weil Palmer zum x-ten Mal absichtlich provozierend das N-Wort rausbellte. Sondern weil er die ihrerseits unangemessenen „Nazi“-Beschimpfungen durch seine Gegner mit einem „Judenstern“ verglich."



    Korrekt. Da geht der erste Fehltritt von Hrn. Palmer in der medialen Nachrichtenaufregung ganz verloren. Der erste Fehler ist nicht minder schlimm wie der Judensternvergleich, da er versucht rassistische und imperiale Wortwahl zu verharmlosen.



    Der zweite Fehltritt erfolgte als äußerst schlecht gewählte "Firewall" aufgrund der verbalen Ausschreitung durch die anderen Beteiligten. Vielleicht auch als hilfloses Argument im Affekt zu werten. Was in keinem Fall eine Entschuldigung sein kann, schon gar nicht für einen Amtsträger wie einem Oberbürgermeister, aber auch für jeden und jede anderen.



    So wird mal wieder übersehen das die leider von Vielen noch immer bewusst gewählte rassistische Wortwahl nicht verurteilt wird, sondern andere, sicherlich nicht minder schwerwiegende Verfehlungen zu Konsequenzen führen. Aber gerade das ist eben auch ein Problem. Und solange dies so bleibt wird sich für die Betroffenen leider nur langsam etwas ändern.

    • @Sonnenhaus:

      Auch seine queer- und insbesondere seine Transfeindlichkeit fallen wie fast immer komplett unter den Tisch. Es geht in fast jedem Artikel über Palmer immer nur um ihn. Aber nie um die Auswirkungen seiner Ausfälle auf Betroffene.

  • Ich bin 2019 bei den Grünen ausgetreten, weil sie sich damals, um in der Europawahl zur 30%-Volkspartei zu werden, bereits endgültig von der Solidarität mit den Flüchtlingen verabschiedet haben. Klimaschutz gegen "Schutz der Außengrenzen", das war schon damals der Deal der Partei Bündnis90/DieGrünen mit der bürgerlichen Klasse in Deutschland & Europa. Und ein voller Erfolg. Dazu gehört wie ein lachhaftes Anhängsel eine Generation, die ihren Jugendprotest für das Klima artikuliert & nicht für ihre Altersgenossen in den Lagern von Griechenland bis hinab in den Sudan. Die RSF, die dort jetzt Bürgerkrieg führt, die früheren Janjaweed-Banditen, waren (oder sind immer noch?) unser "Partner" beim "Migration Management". Und das alles ist noch nicht zynisch & menschenverachtend genug. Und die Grünen? Zeigen auf China & die Behandlung der Uiguren. Aber das UNHCR, AI oder die Ermittler IStGH schauen längst auf die europäischen Verbrechen an den Migranten, weil sie ganz einfach so viel schlimmer & gewaltiger sind als alles, was in Xinjiang geschieht. Aber nicht Frau Baerbocks Thema, ganz klar. Schließlich war sie 2019 nach allem Vernehmen eine treibende Kraft hinter dem neuen Kurs. Aber gut, dass es 2023 mal jemand merkt, dass den Grünen die Migranten scheißegal sind.