Trockenheit in Berlin: „Gießen rettet die Bäume nicht“
Berlins Straßenbäume leiden. Rund 2.000 Bäume müssen allein in Friedrichshain-Kreuzberg gefällt werden, sagt Grünflächenamtsleiter Felix Weisbrich.
taz: Herr Weisbrich, schon Anfang des Jahres haben Sie in einem Interview gesagt, der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg werde mittelfristig ein Drittel seiner rund 42.000 Bäume in Straßen und Grünflächen verlieren, weil sie zu stark geschädigt sind. Jetzt haben Sie bekannt gegeben, dass schon kommendes Jahr 2.000 Bäume gefällt werden. Wo denn vor allem?
Felix Weisbrich: Vor allem sind unsere Straßenbäume betroffen. Schwerpunktgebiete sind die besonders hitzebelasteten Straßen, in der Regel Hauptstraßen mit ihren großen, schwarzen Asphaltflächen. Von denen sind wiederum diejenigen besonders betroffen, die weder Grünanlagen oder die Spree beziehungsweise den Landwehrkanal als kühlende Flächen in der Nähe haben. In diesen Hitzeinseln stehen die Bäume unter extremem Trockenstress, Verdichtung, Emissionen und Verletzungen kommen hinzu.
Was heißt das: Bäume „verlieren“? Bäume leben ja ohnehin nicht ewig.
Rein theoretisch könnte jeder Baum ein biblisches Alter erreichen, weil das Gewebe potenziell fortwährend weiterwächst. Tatsächlich wird er aber irgendwann zusammenbrechen, weil er sich gegen biologische Schädlinge wie holzzersetzende Pilze mit zunehmendem Alter schlechter abschotten kann. Bei unseren Straßenbäumen gehen wir deshalb von einer Lebenserwartung zwischen 60 und 80 Jahren aus. Aber dann gibt es noch die vielen abiotischen Einflüsse, die dazu führen, dass die Bäume dieses Alter oftmals verfehlen. Früher spielte Streusalz eine große Rolle, aber es sind auch die Verdichtung und Verschmutzung des Bodens, physische Beschädigungen der Rinde, Hitzeabstrahlung von Gebäuden und vor allem die sehr unbefriedigende Bodengründung, die dazu führt, dass ausreichender Wurzelraum fehlt.
Was genau hat es damit auf sich?
Die Faustformel lautet: Ein Baum braucht im Optimum durchwurzelbares Bodenvolumen in Größe seiner eigenen Krone. Wenn die 300 Kubikmeter misst, müsste der Baum auch so viel Platz im Boden haben. In Berlin stehen häufig nur 2 bis 3 Kubikmeter zur Verfügung, also ein winziger Bruchteil.
Woran liegt das?
Zum einen haben wir weltkriegsbedingt an vielen Stellen eine dichte Schuttlage im Boden. Es liegen aber auch enorm viele Leitungen unter unseren Straßen – Wasser, Gas, Strom, Telekommunikation. Dazu kommen Tunnel, Schächte und so weiter. Dem Baum fehlt dadurch die Möglichkeit, den Boden weiträumig zu durchwurzeln, um Feuchtigkeit und Nährstoffe aus ihm zu ziehen – im Grunde wie bei einer Zimmerpflanze, die man nicht umtopft.
Wie schlecht es Berlins Bäumen geht, belegt auch der Straßenbaum-Zustandsbericht für 2020, den die Senatsumweltverwaltung gerade vorgelegt hat. Die Untersuchung des Bestands wird alle fünf Jahre per Luftbild und Stichprobe durchgeführt. Trauriges Fazit: Die Schäden im dicht bebauten innerstädtischen Bereich liegen auf dem höchsten Niveau seit 1979, als die Analyse erstmals durchgeführt wurde – und die Schäden nehmen beschleunigt zu. Die vier untersuchten Arten – Linde, Ahorn, Rosskastanie und Platane – hatten 2020 zu 56,6 Prozent Schäden der Stufen 2–4 (leicht bis extrem), nur noch 43,4 Prozent sind gesund.
Seit dem Doppelhaushalt 2020/21 stehen den Bezirksämtern rund 37 Millionen Euro im Jahr für Baumpflege zur Verfügung – eine Verdopplung des bisherigen Niveaus. Hinzu kamen seit Herbst 2017 rund 23 Millionen Euro Sondermittel, etwa für Wässerungen nach Neuanpflanzungen. (clp)
Ist dann nicht erstaunlich, dass die Bäume überhaupt so groß werden?
Es zeigt uns, dass Bäume evolutionäre Überlebenskünstler sind. Aber diese Überlebenskunst gerät jetzt an eine Grenze und die heißt Klimakatastrophe. Wenn zu den abiotischen Schadfaktoren, die ich beschrieben habe, lange Trockenperioden kommen, in Abwechslung mit Starkregen und Sturm, setzt ihnen das noch mal richtig zu. Die drei Trockensommer, die wir hinter uns haben, waren für viele Straßenbäume ein negativer Wendepunkt.
Sehen Sie einem Baum eigentlich sofort an, wenn es ihm schlecht geht?
Oftmals ja. Da gibt es Welkeerscheinungen, Blattverfärbungen, Auslichtungen der Krone, auch sichtbare Pilzschäden, und im Extremfall haben wir es mit trockenen Ästen zu tun. Das ist dann oft das Endstadium. Was sich im Untergrund tut, sieht man logischerweise nicht, allerdings bilden oft Bäume, deren Wurzeln eigentlich herzförmig oder pfahlartig in die Tiefe reichen würden, wegen des fehlenden Raums horizontale Wurzeln aus. Das führt zu diesen ärgerlichen und auch gefährlichen Hebungen an Rad- und Fußwegen.
Die hundertjährige Linde auf dem Boxhagener Platz ist im Februar dieses Jahres einfach abgebrochen – verletzt wurde zum Glück niemand. Kam das völlig überraschend?
Es ist ein schlimmes Beispiel für das Dilemma der Verkehrssicherungspflicht: Ein Baum „versagt“, obwohl wir alles für ihn getan haben. Ich hatte im Herbst 2020 entschieden, dass die von einem Pilz stark befallene Linde nicht einfach gefällt werden soll. Damit hätten wir es uns nämlich zu einfach gemacht, denn so ein alter Baum spielt für viele Menschen auch eine biografische Rolle. Wir haben ihn darum eingehend untersucht, und das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass ein Kronenreduktionsschnitt ausreicht, der die Last verringert. Das hat sich im Nachhinein als falsch herausgestellt. Die Baumschadenskunde ist in fortwährender Entwicklung und die Vorhersage solcher Ereignisse mitunter sehr schwierig. Wir haben jedenfalls nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Uns zwischen Baumerhalt und Gefahrenabwehr entscheiden zu müssen ist unsere alltägliche Gratwanderung.
Felix Weisbrich,
48, leitet seit 2019 das Straßen- und Grünflächenamt von Friedrichshain-Kreuzberg. Der studierte und praxiserfahrene Forstwissenschaftler wurde vor allem durch die „Pop-up-Radspuren“ bekannt.
Zurück in die Zukunft: Was ist Ihr Rezept gegen die desolate Situation?
In erster Linie brauchen unsere künftigen Straßenbäume gesicherte, also nachhaltige Standorte. Sprich: Wo es aufgrund der Verkehrssituation oder der Hitzeabstrahlung absolut nicht machbar ist, sollten wir auf sofortige Neupflanzungen verzichten und zuerst den entsprechenden Platz im Boden schaffen. Und überall da, wo die Bedingungen schon jetzt geeignet sind, müssen wir tief baggern und frisches Substrat, also frische Erde hineinbringen. Wir müssen dafür sorgen, dass im Umfeld keine Leitungen verlaufen, müssen Versickerungsmöglichkeiten für Regenwasser herstellen und uns nach der Pflanzung darum kümmern, dass der Baum auch richtig anwachsen kann. Es ist leider ein verbreitetes Missverständnis, wenn es oft heißt: „Ich schenk euch einen Baum, pflanzt ihn doch einfach.“ Der Baum an sich macht nur zwei bis drei Prozent der Investitionssumme aus! Der Rest wird für die nachhaltige Herstellung und Anwuchspflege des Standorts benötigt. Das ist nicht mehr einfach eine Kuhle, sondern sozusagen ein unterirdisches, nachhaltiges Bauwerk.
Und was kostet das?
Einen solchen Standort können Sie nicht mit den bisher üblichen 300 bis 1.000 Euro herstellen, da brauchen Sie 10.000 Euro aufwärts. Beim derzeitigen Bedarf kommen wir da theoretisch auf rund 10 bis 20 Millionen Euro pro Jahr für unser Baummanagement. Die haben wir natürlich nicht.
Wie viel haben Sie denn?
2,1 Millionen.
Nach der Aufstockung der Beträge, die Rot-Rot-Grün vor zwei Jahren beschlossen hat?
Ja.
Das heißt, dass Sie nicht einfach 2.000 Bäume nachpflanzen werden.
Richtig. Es fehlt an Geld. Die Logik „Pflanz genauso viele Bäume, wie du fällst“ funktioniert unter diesen Vorzeichen vielleicht noch bei einer niedrigen dreistelligen Zahl von Fällungen – aber nicht in dieser durch Klimakatastrophe und Finanzknappheit erzeugten Situation. Wir sagen daher: Lasst uns nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen und irgendwie Bäume in den Boden drücken, die schlimmstenfalls wieder vertrocknen. Langfristig wollen wir natürlich einen Aufbau des Baumbestands, aber nachhaltig ist das nur, wenn wir anfangen, gesicherte Standorte sukzessive aufzubauen. Natürlich hätte ich am liebsten 10 Millionen Euro im Jahr und würde alles gleich richtig machen. Aber wir müssen auf unserer Ebene leider die Realitäten akzeptieren: Die Klimakatastrophe und die katastrophale Lage der öffentlichen Finanzen.
Aber wenn die Bäume erst einmal weniger werden, bekommen Sie ein Vermittlungsproblem.
Deshalb reden wir ja gerade miteinander (lacht). Aber im Ernst: Es geht doch um die Frage, ob unsere städtischen Räume in Zukunft noch lebenswert sind, ob man darin überleben kann. Das ist in Bezug auf ältere Leute gar keine Übertreibung. Wir müssen uns fragen, ob wir vermehrt Hitzetote in unseren öffentlichen Räumen hinnehmen können. Ob etwa Menschen über 60 spazieren gehen können, ohne einen Kreislaufkollaps zu befürchten. Wir sprechen hier nicht nur von Wellbeing und schon gar nicht von Bullerbü, sondern vom Aufbau einer existenziell notwendigen Grün-Infrastruktur.
Werden ab jetzt jedes Jahr so viele Bäume gefällt werden müssen?
Das wissen wir nicht. Wir stellen die vorhandenen Schäden ein- bis zweimal im Jahr durch optische Kontrolle jedes Baumes fest. Wenn Exemplare Schäden aufweisen, werden sie eingehender beobachtet. Aber wir können jetzt nicht Saftfluss-Messungen in allen Bäumen durchführen. Fakt ist, dass im Grunde ausnahmslos alle Bäume im Bezirk in irgendeiner Art und Weise geschädigt sind, zwei Drittel mit höheren Schädigungsgraden. Das sind dramatische Zahlen. Wie viele davon in den nächsten 2, 5, 10 oder 20 Jahren ausfallen werden, können wir aber leider nicht beantworten, das wäre ein Blick in die Glaskugel.
Gießt Ihr Amt Bäume? Und fordern Sie BürgerInnen auf mitzugießen?
Wir gießen überwiegend die neu gepflanzten Bäume, damit sie anwachsen können, aber auch viele jüngere Bäume, solange die Wurzeln noch nicht in tiefere Erdschichten vorgedrungen sind. Und ja, wir haben auch schon zum Gießen aufgefordert – wobei das leider schnell an seine Grenzen stößt.
Warum?
Ein ausgewachsener Baum verdunstet je nach Standort bis zu 400 Liter am Tag. Entweder stehen die ihm im Boden zur Verfügung, weil er tief genug wurzeln kann und die Bodenfeuchtigkeit durch Regen ausreichend aufgefüllt wird, oder eben nicht. Natürlich macht es immer einen kleinen Unterschied, ob ich ein paar Eimer Wasser auf die häufig viel zu enge Baumscheibe gieße, aber der positive Wendepunkt für den Baum ist das nicht, leider. Nur Jungbäume profitieren wirklich von solchen zusätzlichen Wassergaben. Wenn es ums Gießen ausgewachsener Bäume geht, weise ich auch immer darauf hin, dass wir Grundwasserabsenkungen zu befürchten hätten, sollten wir mit ganzen Tankflotten die realen Bedarfe unserer Straßenbäume gießen. Das wären zehntausende Hektoliter am Tag.
Was ist denn dann die Lösung?
Wir müssen das Regenwasser dezentral versickern und dort den Bäumen zur Verfügung stellen, in Baumrigolen, offenen Fugen, teilentsiegelten Straßen. Das ist extrem sinnvoll. Zurzeit geschieht ja das genaue Gegenteil: Über die von James Hobrecht vor 150 Jahren gebauten Radialsysteme wird der Regen von den Bäumen weggeleitet, mit unseren Fäkalien vermischt und am Stadtrand unter hohem technischem Aufwand wiederaufbereitet. Damals eine hygienetechnische Meisterleistung, heute angesichts von Prognosen, die für unsere Region eine wüstenartige Situation vorhersagen, völlig dysfunktional. Begegnen muss man dem durch die Abkopplung des Regenwassers von der Mischwasserkanalisation. Das ist auch vorgesehen, nur hängen wir hinter dem Ziel – 1 Prozent pro Jahr – massiv zurück. Auch hier stehen gigantische Investitionen im Raum, aber es ist der einzige Weg. Wir werden auch überlegen müssen, wie lange und wie hoch nach einem Regenfall das Wasser auf der Straße stehen kann.
Wieso das?
Versickerungsflächen sind zeitlich nicht im selben Maße aufnahmefähig wie ein Kanalisationssystem, die brauchen einfach länger. Wir müssen darüber diskutieren, ob wir mal eine halbe oder auch eine ganze Stunde fünf Zentimeter hoch stehendes Wasser in den Straßen dulden, damit es versickern kann. Ich halte das für vertretbar. Es gibt da keine fertigen Antworten, aber wir müssen anfangen, Erfahrungen zu sammeln und mehr zu wagen.
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