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Trittin über die EU nach dem Brexit„Die Phase der Ruhe ist vorbei“

Der Brexit sei die Folge neoliberaler Politik in Europa, sagt Grünen-Politiker Jürgen Trittin. Auch Kanzlerin Merkel trage eine Mitverantwortung.

Die Neoliberale und der Zauberlehrling: Merkel und Cameron im April Foto: ap
Ulrich Schulte
Interview von Ulrich Schulte

taz: Herr Trittin, Großbritannien verlässt die EU. Macht Ihnen diese Aussicht Angst?

Jürgen Trittin: Der Ausgang des Referendums erfüllt mich mit Sorge. Der Sieg der Brexit-Befürworter stürzt die Europäische Union in eine tiefe Krise. Er wirft die Frage auf, ob es dieses Europa langfristig geben wird, oder ob wir zurückfallen in den Nationalismus der Nationen.

Die Fliehkräfte im gestressten Europa werden jetzt zunehmen. Droht die EU auseinanderzubrechen?

Ich halte für denkbar, dass es in anderen Ländern Versuche geben wird, dem britischen Vorbild zu folgen. Für Rechtspopulisten wie Geert Wilders oder Marie Le Pen ist das Wasser auf ihre Mühlen. Sie haben angekündigt, ebenfalls Volksabstimmungen über einen EU-Austritt anzustreben.

Das heißt, das geeinte, nach Integration strebende Europa, das wir seit Jahren kennen, könnte es so nicht mehr geben?

Richtig. Europa verhieß in der Nachkriegsordnung Frieden, Demokratie und Wohlstand. Diese Phase der Ruhe, des immer weiter voranschreitenden Zusammenwachsens ist vorbei. Der Staatenbund steht vor einer Bewährungsprobe mit offenem Ausgang.

Warum haben sich die Briten knapp gegen Europa entschieden? Viele Experten halten das für wirtschaftspolitisches Harakiri.

Ich glaube, dass wir es im Kern mit den Folgen neoliberaler Politik zu tun haben. Sehen Sie sich die Wahlanalysen aus Großbritannien an: Gegen die EU haben vor allem ältere Menschen gestimmt, gering Qualifizierte und Einkommensschwache. Diese Leute sehen in der EU eine Bedrohung und sie versprechen sich Schutz vom Nationalstaat. Solche Ängste zeigten sich auch bei der Präsidentenwahl in Österreich, wo die FPÖ stark abschnitt.

Der Neoliberalismus ist schuld? Viele Brexit-Fans haben doch eher Angst vor zu viel Zuwanderung.

Bild: reuters
Im Interview: 

61, Ex-Bundesumweltminister, sitzt für die Grünen im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Zuvor war er Fraktionschef und Spitzenkandidat für die Bundestagswahl. Nach dem schlechten Ergebnis seiner Partei zog er sich aus der Spitze zurück.

Diese vorgebliche Angst vor Fremden ist nur ein Symptom. Dahinter stecken ein tiefes Unbehagen nach der Finanzkrise und die Angst, eigene Vorteile zu verlieren. Das sucht sich Ventile, im Moment sind es eben die Migranten. Dass ausgerechnet Großbritannien sich vor Zuwanderung fürchten müsse, ist doch absurd.

Großbritannien vereint als Nachfolger des British Empire seit jeher viele Nationalitäten …

… und es hat in den vergangenen Jahrzehnten massiv durch Zuwanderung profitiert. In dem Land leben sehr viele, gut integrierte und gebildete Commonwealth-Staatsbürger. Ich bleibe deshalb dabei: Im Kern beobachten wir die Entzauberung des Neoliberalismus. Konservative Politiker werden von den Geistern gefressen, die sie selbst entfesselt haben.

Premierminister David Cameron hat bereits seinen Rücktritt angekündigt. War das unvermeidlich?

Cameron hat dieses Referendum gestartet, um seine konservativen Gegner zu befrieden. Später redete er fast panisch dagegen. Er hat wegen einer innenpolitischen Krise die ganze EU ins Chaos gestürzt. Das ist wie im Zauberlehrling. Cameron hat den Besen Boris Johnson aus der Ecke geholt – und wird jetzt von ihm weggefegt.

Wie muss jetzt die EU reagieren? Viele EU-Politiker wollen schnell den Austritt – ohne zuvor über Vergünstigungen für London zu reden.

Das Votum des Volkes muss man ernst nehmen. Die EU und Großbritannien müssen deshalb schnell in Austrittsverhandlungen eintreten. Dass Cameron meint, noch drei Monate Premier bleiben zu können, und erst sein Nachfolger solle sich um den Austritt kümmern, verwundert. Welche Folgen der Austritt für Großbritannien hat, kann im Moment noch niemand genau sagen. Nur eins ist sicher. Ganz normale Menschen werden leiden. Dass das Pfund im Wert sinkt, bedeutet ja: Viele Briten werden merken, dass ihre Altersvorsorge weniger wert ist.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz regt einen Konvent an, der neue Regeln für die EU diskutieren soll. Eine gute Idee?

Ein Konvent zur jetzigen Zeit würde aus meiner Sicht die Rechtspopulisten nur weiter stärken. Eine elitär besetzte Diskussionsrunde verstärkt das Klischee, die EU sei ein abgehobener Bürokratenverein. Ich glaube: Man wird Europa nur zusammenhalten können, wenn man die Gesellschaft zusammenhält.

Es braucht also eine andere Politik?

Ich sehe es so. In den vergangenen Jahren haben Konservative die europäische Agenda bestimmt. Eine konservative Mehrheit in der Kommission, im Rat und im Parlament hat auf freie Märkte und Deregulierung gesetzt. Doch wer durch harte Austeritätspolitik Ungleichheit verstärkt, macht die Rechten stark.

Die europäische Krisenpolitik verantwortet zu einem guten Teil Kanzlerin Angela Merkel. Ist Merkel also verantwortlich für den Brexit?

Merkel hat das deutsche Modell anderen Staaten aufgezwungen. Sie hat eine globale Finanzkrise, die durch Vermögensblasen entstand, in eine Schuldenkrise einzelner Staaten umdefiniert – siehe Spanien. Das hat verhindert, dass wir die Krise richtig aufgearbeitet haben. Diese Politik ist gescheitert und mitverantwortlich für das, was wir jetzt erleben.

Was muss die Bundesregierung nun tun?

Wir brauchen Investitionen. Marktliberale Reformen und Sparprogramme helfen Staaten nicht, die in einer Rezession stecken. Stattdessen braucht die EU eine gemeinsame Investitionspolitik. Und Merkel müsste öffentlich sagen, was sie bisher abstreitet: Die EU ist eine Transferunion. Wer besonders viel gibt, profitiert übrigens sogar davon.

Wie lässt sich das schlechte Image Europas ändern? Viele Menschen halten Brüssel für einen teuren, regelungsversessenen Moloch.

Dafür sind viele Staatschefs selbst verantwortlich. Sie treffen in Brüssel Entscheidungen, die in ihrem Land unpopulär sind. Deshalb erzählen sie zu Hause, Brüssel sei schuld. CDU und CSU regen sich zum Beispiel gerne über eine EU-Verordnung auf, die den Krümmungsgrad von Gurken vorschreibt. Die Wahrheit ist, dass deutsche Ratsvertreter diese Regelung im Auftrag deutscher Handelskonzerne in Brüssel durchgesetzt haben. Es muss endlich Schluss sein damit, dass aus innenpolitischem Kalkül oder Lobbyservilität mit dem Finger auf Brüssel gezeigt und „Haltet den Dieb“ geschrien wird.

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12 Kommentare

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  • Es ist wirklich zum reinschlagen, dass von links bis rechts jeder das Brexit Ergebnis für seine Argumentation missbraucht. genau so geht's nicht weiter.

    Es war eine Protestwahl weil seit Jahren dogmatische, besserwisserische, auf Abgrenzung zum anderen politischen Lager Poltik gemacht wird. Sowohl zwischen den Parteien als auch Yen europäischen Staaten.

    Die Leute haben die Schnauze von denjenigen die stets das andere Lager niedermachen und selbst keine adäquaten Angebote machen.

    Und Herr Trittin immer in der ersten Reihe.

    Gute Nacht!

  • 2G
    24636 (Profil gelöscht)

    Wenn so mal ein Präsident in Deutschland die BürgerInnen adressiert, wäre ich in der Republik angekommen. Stellt man das mal neben das gute Stube Fabulieren eines Gauck oder das tantenhafte Getue Merkels, dann weiß man auch, warum Deutschland ist wie es ist und sich auch nicht ändern will. Wenn selbst linke Medien PolitikerInnen a la Merkel und Gabriel abklatschen, dann hat die Politik der hohlen Geste gewonnen.

     

    In einem anderen Europa wäre es Deutschlands erste Pflicht gewesen, an der Seite Italiens Menschleben im Mittelmeer zu schützen, Griechenland bei der Sanierung seiner Haushalte beizuspringen und gegenüber Frankreich oder Großbritannien immer einen Schritt zurückzutreten. Und all das aus dem Bewusstsein seiner Geschichte und seiner Größe.

  • 3G
    33523 (Profil gelöscht)

    "Doch wer durch harte Austeritätspolitik Ungleichheit verstärkt, macht die Rechten stark."

    Das mag sogar sein aber Spanien, Griechenland und Co. konnten einfach kein weiteres Geld ausgeben, weil sie keins haben. Was soll man den da bitte tun?

     

    "Finanzkrise, die durch Vermögensblasen entstand, in eine Schuldenkrise einzelner Staaten umdefiniert."

    Die Finanzkrise von 2008 wurde ausgelöst durch eine hirnige Vergabepraxis von Krediten an Menschen welche diese absehbar nicht begleichen können, wenn es Hart auf Hart kommt. Diese Praxis wurde in den USA vom Staat sogar befördert. Das die betroffenen Banken dann gerettet wurden ist natürlich ein absolutes Debakel. Die hätte man pleite gehen lassen müssen.

    Das Problem ist das die Wirtschaftspolitik und die Sozialpolitischen Ansätze nicht miteinander vereinbar sind. Der Kapitalist sagt: Es gibt keine Krisen, nur Marktkorrekturen. Der Sozialpolitiker sagt: Wir können die Bürger die davon betroffen sind nicht im Regen stehen lassen! Und das Endergebnis vereint dann die Nachteile aus beiden Welten. Die schlechten Unternehmen wurden nicht vom Anlitz der Erde getilgt, die betroffenen Menschen sind nicht alle insolvent aber viele sind obdachlos oder zumindest ihr Eigenheim los und hoch verschuldet.

     

    Das man aber eine Krise in die andere Umgedeutet ist Unfug. Schon beim EU-Beitritt war klar das Griechenland eigentlich nicht in die EU gehört. Rein geschafft haben sie es dann durch verbrecherische Fälschung von Statistiken. Das ist eine Krise für sich, nicht das Resultat muffiger Kredite die an Privatpersonen vergeben wurden.

     

    "Marktliberale Reformen und Sparprogramme helfen Staaten nicht, die in einer Rezession stecken."

    Korrekt ist: Sie helfen nicht sofort. Es kann aber auch nicht sein das sich bestimmte Nationen einen ausufernden Sozialstaat auf Kosten anderer, teilweise deutlich ärmerer, Länder leistet.

    • @33523 (Profil gelöscht):

      "Korrekt ist: Sie helfen nicht sofort."

       

      Sie helfen schon seit 25 Jahren nicht. Im Gegenteil: Nach dem Durchbruch des neoliberalen Kapitalismus Anfang der 90er Jahre dauerte es nicht lange bis zur größten und dauerhaftesten internationalen Wirtschaftskrise seit Generationen. Ein Ende ist nicht absehbar und vor einer drastischen Verschärfung der weltpolitischen Lage bis hin zu WKIII sind wir in keinster Weise sicher.

       

      Merke: Was für ein paar wenige Absahner gut ist, ist längst nicht für alle Leute gut.

  • Eine Frage der Perspektive

     

    Jeder Mensch hat seine eigene Sicht auf die Dinge und so ist es nicht verwunderlich, dass der Herr Trittin anders denkt als die eine oder der andere.

    Dennoch hoffe ich immer wieder, dass auch andersdenkende Einsichten am Tatsächlichen haben müssen oder zumindest Einsicht am wirklich Handhabbaren zeigen sollten.

    Diese meine Meinung beziehe ich hier einmal ganz speziell auf die Antwort des Herrn Trittin, der doch einen Anspruch zum Intellektuellen hat und eine lange Praxis als Politiker vorweisen kann. Die Frage oben: "Der Neoliberalismus ist schuld? Viele Brexit-Fans haben doch eher Angst vor zu viel Zuwanderung."

    Nein Herr Trittin, dahinter stecken nicht tiefes Unbehagen nach der Finanzkrise und die Angst, eigene Vorteile zu verlieren, dahinter steckt tiefes und sich immer mehr steigerndes Unbehagen der breiten Masse der Menschen, nicht nur in UK, gegen die neoliberalistischen Auswüchse auf der Welt und vor allem auch in Europa. Unsere Finanz- und Wirtschaft allgemein ist so Menschenverachtend, dass immer mehr Menschen ausgegrenzt werden, auf der Strecke bleiben oder resignieren. Und die Politik Herr Trittin? - macht die Sache noch schlimmer, indem sie immer wieder Fragen unzureichend beantwortet oder, gewollt oder nicht, die Menschen auf dummes Wahlvolk reduziert und nach dem Motto "Brot und Spiele" abspeist, ja und immer neue neoliberale Gespinste, wie etwa CETA, TTIP oder auch TISA, über die schon rebellierenden Massen webt. Langsam Herr Trittin, wird aus Rebellion Wut und es ist ganz wichtig für die Politik endlich Perspektiven zu suchen, die eine menschliche Sicht auf die Dinge des Lebens zu lassen, noch ehe alles in Scherben geht.

     

    Viele Grüße

    • @tommason:

      Herr Trittin sieht ja, im Gegensatz zum überwiegenden Teil der Politikfunktionäre und auch der Medienvertreter welche im Augenblick nur die Katastrophenmeldungen einer Finanzblasenwirtschaft reproduzieren und den Brexit um seine Ursachen verkürzen einige Dinge richtig, so z.B. die Mitschuld Deutschlands. Allerdings nimmt er Europa dann auf der anderen Seite eher wieder als Geschäftsmodell wahr.

       

      "..ein tiefes Unbehagen nach der Finanzkrise und die Angst, eigene Vorteile zu verlieren". - Diese realen Ängste erscheinen ihm als Mitglied einer sanierten, Ungerechtigkeit liberal verteilenden Elite nur als Chimären. Eine noch bezahlbare Wohnung ist aber nur aus snobistischer Perspektive als "Vorteil" zu bewerten. De facto wird, bei all der Einwanderung, dann nur noch fußnotenmäßig-kursorisch-diffus zugegeben daß die durch den forcierten Konkurrenzkampf wirtschaftlich eh Benachteiligten durch Einwanderung noch zusätzlich unter Druck kommen. Herr Trittin könnte dann ruhig einmal offensiver gegen TTIP usw. - und damit auch gegen seinen Parteifreund Kretschmann - rebellieren.

  • Wo der Trittin recht hat, hat der recht. Er muss es wissen, denn neoliberale Politik ist schließlich das, was schon Rot/Grün so "erfolgreich" gemacht hat.

    • @Rainer B.:

      Sehr gute Analyse von Trittin!

      Eine der ganz wenigen linken Stellungnahmen, die zum Brexit bisher durchdringen. (Leider hat dazu auch die Linke Partei wenig zu sagen.)

       

      Das Stichwort Griechenland vermeidet Trittin allerdings! "Griechenland" war die Geisterbeschwörung in Deutschland (getragen von einer breiten faschistischen Stimmungsmache in allen Medien und CDU/SPD/AFD/FDP). Von dieser Geisterbeschwörung werden, so sagt Trittin, die Konservativen gefressen, sollte die EU weiter zerfallen. Hat Trittin auf diese Geisterbeschwörung in Deutschland keine Antwort oder traut er sich (noch) nicht?!

      • @Rosmarin:

        Geister, die man ruft, die wird man nicht mehr los. Die anderen verschwinden meist irgendwann von selber.

    • @Rainer B.:

      Stimmt wohl, dass die Grünen seinerzeit diese Politik zugelassen haben, aber Trittin ist wenigstens einsichtig, was man von den Oberrealos in seiner Partei nicht behaupten kann. Von der Dauergroßkoalitonspartei SPD reden wir besser erst gar nicht.

      • @Senza Parole:

        Was heißt da zugelassen, laut Trittin war das ganze eh eine grüne Idee zu der man die SPD überreden mußte:

        http://www.spiegel.de/politik/deutschland/juergen-trittin-im-interview-wir-rennen-nicht-dem-kanzler-hinterher-a-253010.html

        • @ShieTar:

          Der Spiegel entpuppt sich doch immer wieder als zeitgeschichtliche Quelle erster Güte. Die "Arbeitsmarktmaßnahmen" von denen Trittin da spricht, betrafen auch mich seinerzeit. Nochmal schönen Dank dafür. Ich weiß jetzt, wie man eine Bewerbung schreibt, Mit Abitur war das wirklich nicht so einfach. Vielleicht kann ich in meinem nächsten Leben ja auch mal davon profitieren.