Traurige Silvesterbilanz: An Fetische darf nicht gerührt werden
Das Böllern wird absehbar nicht verboten. Denn es ist für die Apologeten der individuellen Freiheit ein Fetisch – wie das Fahren ohne Tempolimit.
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D ie Bilanz ist wie üblich traurig: Fünf Tote in Deutschland, davon einer in Brandenburg. In Berlin vermeldet allein das Unfallkrankenhaus Marzahn am Neujahrstag 17 Bölleropfer mit teils schweren Verletzungen an Händen, Gesicht und Augen. Ein Mann ist erblindet, ein Polizist hätte wegen einer Böller-Attacke fast sein Bein verloren. Es gab in der Hauptstadt 825 Brände, 847 Rettungsdiensteinsätze, 220 technische Einsätze. Dazu kommen Tonnen von Müll, den die BSR entsorgen muss. Nicht bezifferbar ist die Angst vieler Menschen und der Tiere, die Luftverpestung. Der ganz normale Silvesterwahnsinn eben.
Es ist schon merkwürdig, was wir – oder die Mehrheit von uns, oder die tonangebenden Politiker – als „normal“ ansehen, zumindest als etwas, das hinzunehmen sei. Würden zum Beispiel jedes Jahr Dutzende Berliner bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen, hätten wir nach kürzester Zeit eine Diskussion über die unzulängliche Sicherheit im Luftverkehr, ratzfatz wären zig Maßnahmen ergriffen worden. Aber bei 55 Toten im Berliner Straßenverkehr, die es 2024 zu beklagen gab, zucken wir müde mit den Achseln.
Ähnlich ist es mit Silvester: Das „Recht auf Böllerei“ gilt vielen offensichtlich als Ausdruck von individueller Freiheit, die dem Recht der Allgemeinheit auf Schutz übergeordnet ist – letztere darf nur für die Kosten aufkommen. Anders ausgedrückt: Das Böllern ist, wie das Auto, ein Fetisch. Genauer gesagt: ein Fetisch der Männer, der alten und jungen, der reichen und armen, der bio-deutschen und der migrantischen. Und an Fetische darf nicht gerührt werden. Darum gibt es in Deutschland kein Tempolimit, aber ein Dienstwagenprivileg, in Berlin keine autofreie Innenstadt aber fast kostenloses Anwohnerparken.
Und darum gibt es im Mutterland der Verordnungen (noch ein Fetisch) natürlich ein Sprengstoffgesetz, das das Abbrennen von Pyrotechnik das ganze Jahr über nur eigens dafür ausgebildeten „Erlaubnis- oder Befähigungsscheininhabern“ gestattet. Aber für Silvester macht das Gesetz eine Ausnahme. Da darf jeder (Erwachsene) ran. Einmal im Jahr müssen es die Deutschen offenbar krachen lassen.
Koste es, was es wolle.
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