Trauern in Hanau, feiern in München: Doppelte Standards in der Pandemie
Wer darf demonstrieren, wer sich wie auf den Straßen freuen? In der Corona-Pandemie ist Zusammenkunft im öffentlichen Raum umstrittener denn je.
Diese Pandemie hat alles zusammengeschweißt. Es wird fortwährend in Echtzeit ausgehandelt, was okay ist und was nicht. Wer darf in die Öffentlichkeit, wessen Anliegen ist es wert, gehört zu werden? Welche Demonstrationen werden verteidigt, welche werden als überflüssig abgetan? Ist es okay, wenn in München Menschen den Gewinn des Triples feiern, während in Hanau die Behörden die Gedenkdemonstration zu Ehren der Opfer des rassistischen Anschlags untersagen?
Vor einem Jahr hätten das eine und das andere nur am Rande miteinander zu tun gehabt; selbstverständlich hätte es Stimmen gegeben, die Zusammenhänge herstellen hätten können, aber sie wären ein Fall für ein interessantes Stück im Feuilleton gewesen. Jetzt aber steht beides in unmittelbarer Konkurrenz zueinander.
Es ist möglich, Gründe und Entschuldigungen zu finden, warum das eine okay ist und das andere nicht. Bei den Black- Lives-Matter-Demonstrationen trugen die Teilnehmenden in hohem Maße Masken, versuchten Abstand zu halten und hatten ein menschenfreundliches Anliegen; das macht die Sache unterstützenswert, auch weil wir dringend ein Bewusstsein dafür brauchen, welche Zumutungen von Rassismus betroffene Personen in dieser Gesellschaft erleben müssen, Tag für Tag.
Vor allem Fragen
Hanau wäre eine Gelegenheit gewesen, diese Lebenswirklichkeit stärker ins Bewusstsein zu holen. Währenddessen sind die Feierlichkeiten rund um den Triple-Gewinn des FC Bayern nur so eine Art Luxus, Ausdruck eines hedonistischen Eskapismus, dem angesichts der Pandemie jede Unschuld abhandengekommen ist – oder ist es nicht vielmehr ein Ausdruck spontaner Freude, die man desto entschuldbarer findet, je näher man sich dem Verein fühlt? Und bleibt es dann nicht trotzdem dabei, dass auf der einen Seite ein wichtiges zivilgesellschaftliches Anliegen steht – und auf der anderen Seite nur Spaß an der Freude?
Die Rechnung „wichtig gegen unwichtig“ geht nicht auf, wenn man nach Frankreich blickt. Auch dort ist gefeiert worden – allerdings in Marseille, wo Anhänger des Clubs Olympique zu Tausenden die Niederlage des geringgeschätzten Plastikclubs aus der geringgeschätzten Hauptstadt zelebrierten. So bleibt Olympique auch der einzige französische Club, der je Europas Topwettbewerb gewann. Und natürlich waren diese Feierlichkeiten auch politisch – die Provinz, die sich gegen die Zentralmacht aus der Hauptstadt behauptet, die sich und ihre Identität verteidigt; obendrein die Tatsache, dass es viele junge Menschen auch aus den Banlieues waren, die den Anlass ergriffen zu zeigen, dass sie da sind, dass es sie gibt.
In Paris hingegen ist es zu Riots gekommen, Autos brannten, Geschäfte wurden angegriffen. 148 Festnahmen vermeldete die Polizei. Es ist zu einfach, das schlicht als Vandalismus aus Enttäuschung über ein verlorenes Finale abzutun: Riots sind in Frankreich seit den 80ern ein zentrales Moment im Kampf gegen den institutionellen Rassismus. Und sie sind natürlich nur deswegen wirksam, weil sie sich über die Vorgaben des Staates hinwegsetzen.
Behörden sind Partei
Dass der Staat manchmal gerne wegsieht und manchmal nicht, ist ganz gut in Hamburg zu beobachten gewesen: Der Gedenkmarsch für die Opfer von Hanau wurde von der Polizei gestoppt, weil mehr als 500 Teilnehmende da waren. Am 15. August hatte man noch fröhlich tausend Rechtsextreme und Coronaleugner:innen demonstrieren lassen. Das sind die Doppelstandards, die daran zweifeln lassen, dass der Staat eine neutrale Position einnimmt; das sind die Ungerechtigkeiten, die zeigen, dass die Behörden Partei sind.
So, wie diese Pandemie viele Themen zusammenschweißt, die früher getrennt voneinander verhandelt worden sind, so zeigen sich jetzt noch stärker die Gegensätze. Shit is real. Gerade weil im Moment offenbar nichts die Fähigkeit schlägt, möglichst laut und kompromisslos zu sein: Es kennen sehr viel mehr Menschen den Namen Attila Hildmann als den eines der Opfer des Hanauer Anschlags.
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