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Trauern in Hanau, feiern in MünchenDoppelte Standards in der Pandemie

Wer darf demonstrieren, wer sich wie auf den Straßen freuen? In der Corona-Pandemie ist Zusammenkunft im öffentlichen Raum umstrittener denn je.

Arm in Arm: Bayern-Fans nach dem Gewinn der Champions League auf der Straße in München Foto: Peter Kneffel/dpa

Diese Pandemie hat alles zusammengeschweißt. Es wird fortwährend in Echtzeit ausgehandelt, was okay ist und was nicht. Wer darf in die Öffentlichkeit, wessen Anliegen ist es wert, gehört zu werden? Welche Demonstrationen werden verteidigt, welche werden als überflüssig abgetan? Ist es okay, wenn in München Menschen den Gewinn des Triples feiern, während in Hanau die Behörden die Gedenkdemonstration zu Ehren der Opfer des rassistischen Anschlags untersagen?

Vor einem Jahr hätten das eine und das andere nur am Rande miteinander zu tun gehabt; selbstverständlich hätte es Stimmen gegeben, die Zusammenhänge herstellen hätten können, aber sie wären ein Fall für ein interessantes Stück im Feuilleton gewesen. Jetzt aber steht beides in unmittelbarer Konkurrenz zueinander.

Es ist möglich, Gründe und Entschuldigungen zu finden, warum das eine okay ist und das andere nicht. Bei den Black- Lives-Matter-Demonstrationen trugen die Teilnehmenden in hohem Maße Masken, versuchten Abstand zu halten und hatten ein menschenfreundliches Anliegen; das macht die Sache unterstützenswert, auch weil wir dringend ein Bewusstsein dafür brauchen, welche Zumutungen von Rassismus betroffene Personen in dieser Gesellschaft erleben müssen, Tag für Tag.

Vor allem Fragen

Hanau wäre eine Gelegenheit gewesen, diese Lebenswirklichkeit stärker ins Bewusstsein zu holen. Währenddessen sind die Feierlichkeiten rund um den Triple-Gewinn des FC Bayern nur so eine Art Luxus, Ausdruck eines hedonistischen Eskapismus, dem angesichts der Pandemie jede Unschuld abhandengekommen ist – oder ist es nicht vielmehr ein Ausdruck spontaner Freude, die man desto entschuldbarer findet, je näher man sich dem Verein fühlt? Und bleibt es dann nicht trotzdem dabei, dass auf der einen Seite ein wichtiges zivilgesellschaftliches Anliegen steht – und auf der anderen Seite nur Spaß an der Freude?

Die Rechnung „wichtig gegen unwichtig“ geht nicht auf, wenn man nach Frankreich blickt. Auch dort ist gefeiert worden – allerdings in Marseille, wo Anhänger des Clubs Olympique zu Tausenden die Niederlage des geringgeschätzten Plastikclubs aus der geringgeschätzten Hauptstadt zelebrierten. So bleibt Olympique auch der einzige französische Club, der je Europas Topwettbewerb gewann. Und natürlich waren diese Feierlichkeiten auch politisch – die Provinz, die sich gegen die Zentralmacht aus der Hauptstadt behauptet, die sich und ihre Identität verteidigt; obendrein die Tatsache, dass es viele junge Menschen auch aus den Ban­lieues waren, die den Anlass ergriffen zu zeigen, dass sie da sind, dass es sie gibt.

Ist es okay, wenn in München Menschen das Triple feiern?

In Paris hingegen ist es zu Riots gekommen, Autos brannten, Geschäfte wurden angegriffen. 148 Festnahmen vermeldete die Polizei. Es ist zu einfach, das schlicht als Vandalismus aus Enttäuschung über ein verlorenes Finale abzutun: Riots sind in Frankreich seit den 80ern ein zentrales Moment im Kampf gegen den institutionellen Rassismus. Und sie sind natürlich nur deswegen wirksam, weil sie sich über die Vorgaben des Staates hinwegsetzen.

Behörden sind Partei

Dass der Staat manchmal gerne wegsieht und manchmal nicht, ist ganz gut in Hamburg zu beobachten gewesen: Der Gedenkmarsch für die Opfer von Hanau wurde von der Polizei gestoppt, weil mehr als 500 Teilnehmende da waren. Am 15. August hatte man noch fröhlich tausend Rechtsextreme und Coronaleugner:innen demonstrieren lassen. Das sind die Doppelstandards, die daran zweifeln lassen, dass der Staat eine neutrale Position einnimmt; das sind die Ungerechtigkeiten, die zeigen, dass die Behörden Partei sind.

So, wie diese Pandemie viele Themen zusammenschweißt, die früher getrennt voneinander verhandelt worden sind, so zeigen sich jetzt noch stärker die Gegensätze. Shit is real. Gerade weil im Moment offenbar nichts die Fähigkeit schlägt, möglichst laut und kompromisslos zu sein: Es kennen sehr viel mehr Menschen den Namen Attila Hildmann als den eines der Opfer des Hanauer Anschlags.

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6 Kommentare

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  • “Jeder Verantwortungsträger muss entscheiden - in Kenntnis der Umstände bei ihm. Ausgerechnet in Hanau und Umgebung war man am Freitag bei 49 Infektionen pro 100000 Einwohner angekommen. Das Virus unterscheidet nun mal nicht nach dem Motiv und dem Verantwortungsbewusstsein von Demonstranten. Der OB hat nach bestem Wissen und Gewissenentschieden.”

    www.sueddeutsche.d...npflicht-1.5007426

    • @Weber:

      Ganz so einfach ist dem nicht. Bielefeld und Gütersloh hatten nach dem Tonnies Skandal tagelang deutlich über 50 Infizierte pro 10.0000 Einwohner*innen und lange gab es keinen Lockdown oder entsprechende Maßnahmen. Zu Beginn des Livestreams aus Hanau schilderte eine Person die Situation vor Ort: zum Teil dicht gedrängt und nicht immer mit Makse waren Menschen in der Stadt und auf dem Markt unterwegs, tranken Wein und bummelten in Shopping Malls.



      Das Gedenken an einen der schwersten Terroranschläge in der Geschichte der BRD ist bzw. sollte oberste Priorität sein.



      Wieso die Demo abgesagt wurde, nebenbei aber weiter geshopt, gebummelt, ins Kino udn auf Konzerte gegangen werden durfte. Wieso weiter in nicht systemrelevanten Fabriken und Läden gearbeitet wird ist unverständlich und würdelos.

  • Dass die einzelnen Bundesländer, ja sogar Landkreise völlig unterschiedliche Regeln und deren Durchsetzungen im Umgang mit der Pandemie haben, kann man sicherlich kritisch sehen. Gerade beim Demonstrationsrecht fände ich bundesweite Standards sinnvoller. Die Absage von Hanau ist schon irgendwie traurig.

    Aber den Fakt, dass über Genehmigungen von unterschiedlichsten Behörden in Gebieten mit unterschiedlichsten Fallzahlen entschieden wird, einfach hinten runter fallen zu lassen und moralisierende, schiefe Vergleiche zwischen Fällen, die nichts mit einander zu tun haben, ist einfach am Thema vorbei.

    Und in Fußballrandalen verständnisvoll antirassistischen Protest zu vermuten, während man den feiernden Fans egoistischen Hedonismus in Pandemiezeiten unterstellt, ist schon ziemlich harter Tobak.

  • Eine geplante Demo vorab und damit für alle planbar abzusagen in einer Stadt, die zur Zeit ein eher hohes Infektionsgeschehen hat, ist ja wohl schwer zu vergleichen mit einer eher schwer regulierbaren Fanfeier in einer Stadt mit zur Zeit eher niedrigen Infektionszahlen. So sehr ich die Demoabsage in Hanau bedaure, kommt mal ein bisschen runter mit Euren ermüdenden Schreib-Reflexen. Kein Mensch hätte eine offizielle Fußballfeier auf dem Marienplatz genehmigt, wie sie vor einem Jahr ja üblich gewesen wäre.



    Habt ihr keine besseren Seitenfüller?

    • @Ignaz Wrobel:

      Mein Vorredner hat berreits vieles gesagt.



      Hinzuzufügen "für alle planbar abzusagen" trifft schlicht nicht zu. Die Absage war so klakulliert, dass keine rechtlichen Schritte mehr möglich gewesen sind. Die Infektionszahlen schon tage vorher hoch mit abzeichnender Tendenz. Das die Absage Freitag Abend kahm hat jegliche Reaktion (wie z.B. dezentrale Demos in ganz Deutschland) verunmöglicht.

    • @Ignaz Wrobel:

      Ne. Ich finde den Artikel völlig berechtigt. Die mit der Pandemie begründeten Verbote wirken neben der Laxheit in anderen Fällen durchaus schief (ich erspare mir hier mal die Aufzählung. Suchmaschine hilft).

      Und wenn wir uns hier eines nicht leisten können, dann ist es eine Instrumentalisierung des Pandemieschutzes: dafür stehen zu viele Menschenleben auf dem Spiel (und wir haben genug Durchgeknallte, die das ganze schon gar nicht glauben wollen).

      Also, liebe taz -- füllt weiter schön die Seiten, wenn's so gut geschrieben ist wie hier.