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Transatlantische KriseEuropa erfindet sich neu

Gastkommentar von Bastian Hermisson

Es geht nicht nur um Geld. Wir können der innovative und kulturelle Magnet der Welt sein. Das ist die Stärke demokratischer Gesellschaften.

Die Flaggen der EU-Mitgliedsstaaten nochmal gerade gerückt, bevor sie gehisst werden Foto: Omar Havana/ap/dpa

I n diesen Tagen beginnt eine neue europäische Epoche. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die Entwicklung unseres freiheitlichen, prosperierenden und friedlichen Europas von den Vereinigten Staaten garantiert. Damit ist es jetzt vorbei. Während Russland Krieg gegen die europäische Friedensordnung führt, greift die amerikanische Regierung die europäische Werteordnung an. Wir können hoffen, dass die USA zu einem Wertebündnis mit Europa zurückkehren.

Aber wir müssen handeln in der Annahme, dass dies nicht der Fall sein wird. Einfach wird dieser Weg nicht werden, aber wir können ihn gemeinsam bewältigen. Europa hat alle Voraussetzungen, um sich in dieser Welt zu behaupten. Und Europa ist nicht allein. Die EU ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, mit 450 Millionen Einwohnern, der zweitwichtigsten Währung der Welt und einer großen sozialen und kulturellen Anziehungskraft. Mit dieser Stärke garantiert die EU die Unabhängigkeit ihrer Mitgliedstaaten.

Das sollte in diesen Zeiten auch Ländern wie Ungarn oder der Slowakei zu denken geben. Sie müssen sich fragen, ob sie als gleichberechtigte Partner Teil einer regelbasierten Gemeinschaft sein oder von Russland dominiert beziehungsweise von Washington über den Tisch gezogen werden wollen. Gleiches gilt für die große Mehrheit der Länder weltweit, mit denen Europa jetzt verlässliche Partnerschaften eingehen kann – auf Augenhöhe statt mit Erpressermethoden.

Die USA, Russland oder China mögen Politik als Nullsummenspiel betreiben, aber es gibt immer noch eine globale Mehrheit für Partnerschaften und belastbare Kooperationen. Freiwillige Vereinbarungen zwischen Staaten bringen beide Seiten voran, sei es bei Klimaabkommen, über Forschungskooperationen bis hin zu Sicherheitspartnerschaften. Das 20. Jahrhundert ist eine Erfolgsgeschichte genau dieses Prinzips. Deshalb leben wir in Europa als unabhängige Staaten in Frieden, Freiheit und Wohlstand zusammen. Dafür lohnt es sich selbstbewusst einzutreten.

Bild: Böll-Stiftung
Bastian Hermisson

leitet seit Januar 2023 den Bereich Inland der Heinrich-Böll-Stiftung. In den Jahren 2015 bis 2022 war er Bürochef der Böll-Stiftung in Washington.

Abschied von alten Reflexen nehmen

Die Grundlage dafür ist militärische, wirtschaftliche und politische Stärke. Wir brauchen eine wesentlich robustere Rüstungs- und Verteidigungspolitik, gerade auch mit Blick auf die Ukraine. Denn die Ukraine ist die Frontlinie für die Verteidigung der Freiheit und Unabhängigkeit Europas. Wir brauchen neue Impulse für Wachstum und Innovation, um unsere Wirtschaft zu stärken. Und wir brauchen mutige politische Führung, die für Interessenausgleiche in Europa sorgt und Partnerschaften weltweit aufbaut und festigt.

Wir in Deutschland spielen dabei die wichtigste Rolle. Wir sind das stärkste Land in der EU, und haben entscheidenden Einfluss auf den Erfolg Europas und damit auf unser eigenes Schicksal. Der finanzielle Spielraum dafür wird gerade geschaffen, und das ist gut so. Denn wenn wir jetzt nicht bereit sind, in die Zukunft unserer Kinder zu investieren, gefährden wir die Grundlagen ihrer Zukunft in Freiheit und Frieden. Geld alleine wird allerdings nicht reichen.

Es geht auch darum, ob uns ein gesellschaftlicher Aufbruch und ein umfassender Modernisierungs- und Innovationsschub gelingen werden. Wir sind ein Land und ein Kontinent der Dichter und Denker. Nur mit Kreativität, Innovation und Schaffenskraft können wir uns behaupten. Sorgen wir dafür, dass die klügsten Köpfe und alle Menschen, die wirklich etwas bewegen wollen, ihre Zukunft in Europa sehen und nicht in einem totalitären China oder einem instabilen Amerika.

Der Abschottung der Nationalisten dieser Welt können wir ein Europa entgegenhalten, das „open for business“ ist. Wir können der innovative und kulturelle Magnet der Welt sein. Denn das ist die Stärke demokratischer und offener Gesellschaften. Damit dies gelingt, braucht es Mut zur Veränderung und den Willen, hart dafür zu arbeiten. So wie wir uns als Gesellschaft von vielen Gewissheiten verabschieden müssen, sollten auch die demokratischen Parteien alte Reflexe überdenken.

Auf gesellschaftlichen Zusammenhalt setzen

Die Union könnte beispielsweise akzeptieren, dass Migration nicht in erster Linie eine Bedrohung ist, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir uns als Innovations- und Industriestandort behaupten können. Die SPD könnte ein offeneres Ohr für die Belange unserer östlichen Nachbarstaaten entwickeln und dafür, dass der Staat nicht die Antwort auf alle Probleme ist. Die Linkspartei könnte sich von sicherheitspolitischen Illusionen ebenso verabschieden wie von alten antieuropäischen Impulsen.

Und die Grünen könnten die Chancen mancher technologischer Innovationen stärker in den Blick nehmen als deren Risiken. Jetzt ist die Gelegenheit, unsere politischen Diskurse den neuen Realitäten anzupassen. Nicht zuletzt brauchen wir nun einen intensiven gesellschaftlichen Dialog darüber, was uns als Wertegemeinschaft ausmacht und was jede und jeder zur Verteidigung und Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft beitragen kann.

Als Bürgerinnen und Bürger sind wir weder Konsumenten staatlichen Handelns noch hilflose Objekte der Zeitgeschichte. Wir sind freie Menschen, die mit unseren Ideen und unserer Tatkraft helfen können, Deutschland und Europa zum Ort der Zukunft zu machen, in unserem Beruf, in unserer Nachbarschaft, in unserem Gemeinwesen.

Ein gesellschaftliches Dienstjahr für junge Menschen könnte ein möglicher Beitrag für diese neue Zeit sein und die stärkere Ermöglichung und Einbindung von freiwilligem Engagement aller Teile der Gesellschaft. Denn gerade wenn es schwierig wird, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt unsere wichtigste Währung. Wir alle sind Mitgestalter dieser neuen Zeit. Und wenn wir Erfolg haben, können wir eines Tages auf sie zurückblicken als die neue Geburtsstunde Europas.

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4 Kommentare

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  • Ich fürchte die nächsten Jahre werden eher ein verzweifelter Abwehrkampf, um die Erosion der Demokratie zu verhindern. Putin, Vance & Co. werden sich ja nicht mit "leben und leben lassen" begnügen, sondern sie werden versuchen die Demokratien weiter zu destabilisieren. Und leider gibt es erschreckend viele Wähler, die für Kreml-Propaganda empfänglich sind.



    In den USA hat der Demos der sich anbahnenden Oligarchie den Weg bereitet, trotz des 6. Januar und unzähliger anderer Dinge. Insofern hat der Autor trotz des Pathos aber auch ein Stück weit Recht, wenn er konstatiert, dass wir nicht nur "hilflose Objekte der Zeitgeschichte" sind. Aber einfach wird das alles sicher nicht.

  • Jo, das ist erst einmal vollkommen richtig, aber es ist doch eine Utopie.

    Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen wird Europa wirtschaftlich nicht erfolgreich sein und in der Folge klappt auch alles andere nicht.

    Auf einem Kontinent auf dem es ein Jahrzehnt dauert eine Fabrik für irgendwas zu bauen, nur um dann überwiegend damit beschäftigt zu sein irgendwelche bürokratischen Turnübungen zu machen und das auch noch bei sehr hohen Löhnen und Energiekosten, wird es kein Wirtschaftswunder geben.

    In Forschung und Entwicklung brauchen wir uns nicht zu verstecken, nur in der wirtschaftlichen Umsetzung sehen wir gegen die USA und China kein Land. Bis Europa soweit ist, haben die zwei großen den Weltmarkt bereits unter sich aufgeteilt...

    Und ohne Moos nix los, die soziokulturelle Anziehungskraft eines europäischen Industriemuseums wird sich jedenfalls in Grenzen halten.

    Apropos Böll-Stiftung. Der bereits seit Jahrzehnten angesagte BILLIGE Ökostrom, wenn das bald mal klappen würde, dann wäre das erste Viertel an Problemen schon gelöst! Wann ist es denn so weit?

  • Eine begrüssenswerte Utopie, Ernst Bloch hätte seine Freunde gehabt an den Ausführungen des Autors.

    Nur leider sieht die Realität in vielen europäischen Nationalstaaten anders aus. Dort sind Rechtsparteien bereits direkt in der Regierung, an der Regierung beteiligt oder gar stärkste Kraft der Opposition.

    Und diese rechten Kräfte haben eine ganz andere Vision von Europa als der Autor und vertreten geradezu konträre Positionen, wie etwa zurück zum Nationalstaat, weniger Macht für Brüssel, mehr nationale Kompetenzen.

    Auch hinsichtlich der Büdnisspartner schwebt diesen Kräften weniger Japan, Kanada, Australien oder Brasilien vor sondern eher Russland und China.

    Und auch Migration betrachten diese Protagonisten nicht als Chance hinsichtlich des demografischen Wandels.

    Den größten Zweifel habe ich aber hinsichtlich der Stellung Deutschlands in der EU, wirtschaftlich mag es der stärkste Partner der EU sein. In allen anderen Bereichen hängt es aber weit zurück. Den Hinweis gestatte ich mir als Norweger einfach einmal. Die Zeiten in denen das Ausland mit Bewunderung auf Deutschland blickte, weil hier alles so schön geordnet ist und funktioniert sind seit langem passe.

  • "Freiwillige Vereinbarungen zwischen Staaten bringen beide Seiten voran,... Das 20. Jahrhundert ist eine Erfolgsgeschichte genau dieses Prinzips." Das ist doch bestenfalls Augenwischerei.



    Wenn das 20. Jahrhundert überhaupt als "Erfolgsgeschichte" gelesen werden kann, dann so, dass Staaten des "Westens" jeweils unter erheblichem Druck die ganze Kraft und alle Potenziale ihrer technisch hochentwickelten, demokratischen Gesellschaften ausspielen mussten, um im Ringen um Hegemonie (gegen Diktaturen) siegreich zu sein.



    Dass die "Dekolonisierung" weder von der einen noch von der anderen Seite auf ganz "freiwillige" Vereinbarungen zurückging, macht doch den derzeitigen Diskurs (oder Kampf um Deutungshoheit) mehr als notwendig.



    Wenn ich jetzt noch den Feminismus als einen der vielen gesellschaftlichen Diskurse herausgreife, scheint mir auch das eher Kampf und Krampf zu sein als irgendwie "Einigung auf freiwillig". Wenn es so wäre, hätte sich die Taz-Redaktioninnen ihre schönen Sonderseiten zum 8. März auch sparen können.