Tote an polnisch-belarussischer Grenze: Brüsseler Balance
EU-Politikerinnen geben Belarus die Schuld am polnisch-belarussischen Grenzstreit. Der hat jetzt vier Tote gefordert. Zu Polens Rolle schweigt man.
Die EU-Kommission beobachtet die angespannte Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus mit wachsender Sorge. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko heize die Spannungen gezielt an, heißt es in der Brüsseler Behörde.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach in der vergangenen Woche von einem „hybriden Angriff, um Europa zu destabilisieren“. Solange sich die EU nicht auf gemeinsame Regeln in der Migrationspolitik einige, würden Gegner wie Lukaschenko dies schamlos ausnutzen.
Wesentlich zurückhaltender ist die EU-Kommission, wenn es um die Rolle Polens in dem Grenzkonflikt geht. Auf Fragen nach der Sperrzone und dem Ausnahmezustand an der Grenze zu Belarus reagiert die Behörde ausweichend.
„Dass Menschen im Grenzgebiet festsitzen, ist einzig und allein die Schuld von Lukaschenko“, sagte der Sprecher von EU-Außenkommissar Josep Borrell. Er nutze Flüchtlinge, um „politischen Druck“ auszuüben. Dies sei inakzeptabel.
Missmanagment der Grenze
Das „Management“ der Grenze liege jedoch bei der polnischen Regierung, erklärte ein weiterer Sprecher. Es müsse im Einklang mit den EU-Regeln und den Menschenrechten erfolgen. „Wir sind in Kontakt mit den polnischen Behörden, um ihnen dabei zu helfen.“ Zum von Warschau verhängten Ausnahmezustand wollte er sich jedoch nicht äußern. Man beobachte die Lage sehr genau und werde das zugrunde liegende polnische Gesetz prüfen.
„Dass Menschen im Grenzgebiet festsitzen, ist einzig und allein die Schuld von Lukaschenko“
Ende August hatten sich auch die EU-Innenminister mit der Flüchtlingskrise an der EU-Ostgrenze beschäftigt. Im Mittelpunkt stand damals aber noch Litauen. Die umstrittene EU-Grenzschutzagentur Frontex ist mit einer Art Eingreiftruppe vor Ort im Einsatz. Insgesamt seien 127 Beamte, 30 Streifenwagen und zwei Hubschrauber an der Grenze zwischen Litauen und Belarus stationiert, sagte Frontex-Sprecher Piotr Świtalski damals.
Auf die Eskalation in Polen war die EU jedoch offenbar nicht vorbereitet. Sie bringt die Europäer in die Bredouille. Einerseits wollen sie Solidarität mit Polen üben – genau so, wie sie es Anfang 2020 bei der Grenzkrise zwischen der Türkei und Griechenland getan hatten. Damals hatte der türkische Präsident Recep Erdoğan einen Übergang zur EU für offen erklärt und eine große Flüchtlingsbewegung ausgelöst. Von der Leyen hielt dagegen und lobte Griechenland als „europäischen Schild“.
Andererseits liegt die EU-Kommission mit Warschau wegen der polnischen Justizreform im Clinch. Zuletzt hatte Brüssel deshalb sogar millionenschwere Strafzahlungen gefordert. Dies könnte ein Grund sein, weshalb sich die Brüsseler Behörde mit Kritik zurückhält – auch wenn der Grenzstreit nun die ersten Todesopfer gefordert hat.
Leser*innenkommentare
Arnulf MAINZER
Das sehe ich nicht so. Ich bin absolut kein PiSowski und ich würde Polen auch eine massive Migrationswelle wünschen, einfach weil dann die Notwendigkeit spürbar wird, den Dublin-Prozess dahingehend zu reformieren, dass Migranten gerecht auf alle EU-Mitglieder verteilt werden (eigenes Leid erhöht manchmal doch die Kompromissbereitschaft).
ABER in diesem speziellen Falle sitzt der Böse in Minsk und treibt ein zynisches Spiel mit Menschenleben mit der EU. Alles, was Polen in diesem Zusammenhang macht, ist den Schutz der EU- und Schengen-Außengrenze zu gewährleisten, wie das die entsprechenden Verträge fordern.
Polen kann durchaus Nahrung, warme Kleidung und was sonst benötigt wird, über die Grenze werfen. Polen kann aber z.B. nicht einfach mal so ins Niemandsland oder gar auf das Gebiet Weißrusslands gehen, um den Migranten zu helfen. Wer das verlangt, riskiert einen Krieg!, denn ohne Zweifel würde Lukaschenko so ein Vorgehen nicht unbeantwortet lassen.
Nach Angaben des Polnischen Grenzschutzes werden auf der Weißrussischen Seite der Grenze Soldaten gesichtet, die weder von der Uniform noch von der Ausrüstung her dort sein sollten. Genannt werden u.a. Luftlandetruppen und Spezialeinheiten. Das macht die Lage mehr als kompliziert. Ich bin mir durchaus sicher, dass Lukaschenko nur auf einen Zwischenfall wartet, mit dem er zumindest propagandistisch zu punkten hofft.
Man muss sich in dem Zusammenhang einmal vorstellen, Weißrussland wäre eine Insel, auf die Lukaschenko Migranten verfrachtet, um sie anschließend alle unversorgt auf den Strand zu treiben. Wer wäre denn dann in der Pflicht? Würde man dann das nächstgelegene Land verpflichten wollen, die derart in Not Gebrachten zu evakuieren und einen Krieg zu riskieren? Wohl eher nicht!
Die EU hat in diesem Falle gar keine Möglichkeit zu handeln, weil ihr die Machtmittel fehlen (sie ist ein fetter aber impotenter Papiertiger) und weil Lukaschenko seinen großen Bruder Putin als Rückendeckung hat; traurige Realität.