Todeszone EU-Außengrenze: Alltägliches Massaker im Mittelmeer
68 Tote forderte die Havarie vom vergangenen Sonntag. Doch die Herkunftsländer lassen der EU ihre Gleichgültigkeit nicht mehr durchgehen.
Die Toten von einst mussten sich mit einer einzigen Rose pro Sarg begnügen. In drei langen Reihen hatten Helfer sie aufgebahrt: 290 Särge aus dunklem Holz, darin die 290 Opfer des Schiffsunglücks vom 3. Oktober 2013, zur Schau gestellt in einer Wellblechhalle am Rande des Hafens von Lampedusa. „Ich werde diesen Anblick für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen“, sagte die damalige EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström, die zur Trauerfeier gereist war, später. „Das war das Bild einer Union, die wir nicht wollen.“
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Die 68 Menschen, die am vergangenen Sonntag in Sichtweite des süditalienischen Küstenstädchens Crotone ertranken, bekamen ein üppiges Bouquet aus weißen Rosen, Schleierkraut, Margeriten, halb so groß wie die Särge, die in der örtlichen Turnhalle aufgebahrt waren. Auf einen weißen Kindersarg hatten hilflose Helfer noch ein blaues Spielzeugauto gelegt, als könne das tote Kind es noch gebrauchen.
Fast zehn Jahre und über 26.000 im Mittelmeer Ertrunkene liegen zwischen den beiden Bildern. Der Blumenschmuck für das Grab der Toten ist größer geworden, die öffentliche Anteilnahme kleiner. Von der EU kam niemand nach Crotone. Und die Bereitschaft, politische Konsequenzen aus dem andauernden Sterben zu ziehen, ist in dieser Zeit ins nicht mehr Erkennbare geschrumpft.
Es ist hier nicht die Rede von Unfällen. Das im Auftrag der EU-Grenzschutzagentur Frontex über dem Seegebiet patrouillierende Aufklärungsflugzeug Eagle 1 hatte das Schiff am 25. Februar um 22 Uhr auf offener See gesichtet. Es informierte allerdings nicht die italienische Küstenwache, sondern nur die Finanz- und Zollpolizei Guardia di Finanza. Der Schiffbruch ereignete sich nach Angaben der EU-Kommission vier Stunden später, am Sonntag um 2 Uhr morgens. Die italienische Küstenwache erhielt die ersten Notfallinformationen jedoch erst um 4.30 Uhr. Die Küstenwache und die Guardia di Finanza wurden vom Parlament in Rom aufgefordert, ihre Akten zu dem Vorfall offenzulegen.
Kein Einzelfall
Das Ganze wäre schon erschütternd, wenn es ein Einzelfall wäre. Doch das, was vor Crotone geschah, ist heute an den europäischen Außengrenzen Alltag. Allein in diesem Jahr sind dort im Schnitt an jedem Tag fast sechs Menschen ertrunken. Wer in Not ist, kann sich nicht darauf verlassen, dass Hilfe kommt – in einem der am besten überwachten Seegebiete der Welt. Der Tod durch Unterlassen zum Zweck der Abschreckung ist ein Element des europäischen Grenzschutzes geworden. Und das seit langer Zeit.
Am Donnerstag trat der Niederländer Hans Leijtens sein Amt als neuer Frontex-Direktor an. Zuvor hatte er zugesichert, die Beteiligung von Frontex an rechtswidrigen Pushbacks zu beenden und versprochen, für „mehr Transparenz“ bei der Untersuchung von Rechtsverletzungen zu sorgen. Doch wie seine Vorgänger steht Leijtens vor einem Dilemma: Seine primäre Aufgabe besteht darin, irreguläre Grenzübertritte einzudämmen. Und dieses Ziel hat heute politische Priorität – koste es, was es wolle.
Erst kürzlich kündigte die EU offen neue Unterstützung für die libysche Küstenwache an. Über 100.000 Menschen hat diese auf dem Mittelmeer eingefangen und in libysche Lagergefangenschaft zurückgebracht, seit Italien die Einheiten 2016 aufzubauen begann. Allein seit Beginn dieses Jahres waren es über 3.000 Menschen, wie die UN zählten. Und gerade erst wurden den Libyern dafür neue Schiffe übergeben.
Südlich des Mittelmeeres wird all das aufmerksam verfolgt. Die Partnerschaft, die Europa mit Afrika erklärtermaßen ausbauen will – bei der grünen Transformation, bei der Digitalisierung, dem Kampf gegen den Dschihad, beim Handel und natürlich bei der Migrationskontrolle – wird immer belasteter.
Neue Gebermächte
Antikoloniale Positionen mischen sich mit wachsender Wut über das Massensterben an den EU-Grenzen. Und den Afrikanern bieten sich Alternativen: Kooperationen mit neuen Gebermächten wie China, Indien, der Türkei – und Russland. Mali, wo die deutsche Bundeswehr seit 10 Jahren den Kampf gegen den Islamismus unterstützt, hat sich just in der vergangenen Woche bei der UN-Abstimmung über eine Verurteilung des Ukraine-Kriegs offen auf die Seite Russlands gestellt. Solche Abwendung vom Westen nimmt zu. Und Europas Migrationspolitik ist ein Grund dafür.
Die zehn Jahre seit dem Unglück von Lampedusa waren eine Zeit, in der der Druck der rechten Konkurrenz die Parteien der Mitte dazu brachte, immer menschenverachtendere Formen des Grenzschutzes mitzutragen – während die rechte Konkurzenz gleichzeitig immer stärker wurde. Wie in Italien.
Viele sorgten sich, als dort im Oktober die Postfaschistin Giorgia Meloni ihr Amt antrat. Der ernüchternde Befund: Ihre bisherige Politik unterscheidet sich nur geringfügig von jener der Vorgängerregierungen. Das liegt nur zu einem Teil daran, dass eine Reihe von Gerichtsurteilen jüngst klar gemacht haben, dass auch Italiens Regierung das Flüchtlingsrecht nicht beliebig übergehen kann. Es liegt auch daran, dass die Vorgängerregierung vor allem bei der Behinderung der Seenotrettungs-NGOs im Mittelmeer sehr weit gegangen sind. Das Dekret, dass die Meloni-Regierung nun im November erlassen hat, um den Rettern das Leben noch schwerer zu machen, ist deshalb nur die graduelle Fortsetzung einer Entwicklung, die die Parteien der Mitte – konsensual und unter der steten Versicherung, die Menschenrechte zu achten – schon vor Jahren eingeleitet haben.
Die jüngste Episode war Mitte der vergangenen Woche in Berlin zu beobachten: Das FDP-geführte Verkehrsministerium kündigte an, die Sicherheitsanforderungen für kleine Schiffe zu verschärfen. Alle Wasserfahrzeuge in einer Länge von 24 bis 35 Metern sollen künftig wie große Frachtschiffe behandelt werden – und deshalb unter anderem ein sogenanntes Schiffssicherheitszeugnis vorlegen müssen.
Was harmlos klingt, hätte es in sich: Sieben deutsche Seenotrettungs-NGOs erklärten, dass die Reform derartige Mehrkosten für sie bedeuten würde, dass die „Mehrheit der zivilen Seenotrettungsschiffe unter deutscher Flagge (…) ihre lebensrettende Arbeit einschränken oder einstellen müssen.“
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