Tod unter Videoüberwachung: Suizid im Suizid-Schutzraum
Im Wolfenbütteler Knast bringt sich im Juni ein Häftling in einem geschützten Haftraum um. Das Justizministerium ist in Erklärungsnot.

Die Selbstgefährdung des Mannes war bekannt. Deswegen war er in einem sogenannten besonders gesicherten Haftraum (BgH) untergebracht worden – einer Zelle, die von Gittern umschlossen ist, damit die JVA-Mitarbeitenden jederzeit von außen Kontakt zum Gefangenen aufnehmen können und in der es nur eine Matratze und kein weiteres Mobiliar oder andere gefährdende Gegenstände gibt. Auch die dauerhafte Kameraüberwachung wurde angeordnet. Es half alles nichts. Er starb.
„Wir bedauern den Tod des Gefangenen zutiefst“, schreibt Verena Brinkmann der taz. Sie ist die Sprecherin des niedersächsischen Justizministeriums in Hannover. Das Ministerium nehme den Vorfall „äußerst ernst“ und werde „den gesamten Vorgang aufarbeiten“.
Auf Nachfrage gibt es aus dem Ministerium keine näheren Auskünfte über die genauen Todesumstände. In anderen Medien ist die Rede davon, der 35-jährige polnische Häftling habe sich mit Verbandsmaterial an den Gitterstäben der Zelle stranguliert.
Offene Fragen
Man bemühe sich, den gesetzlichen Auftrag der „sicheren Unterbringung“ zu erfüllen, so schreibt die JVA Wolfenbüttel auf ihrer Website in ihrer Selbstdarstellung. Dieses Bemühen hat hier offenbar nicht ausgereicht und nun stehen viele unbeantwortete Fragen im Raum.
Eine dieser Fragen ist, ob menschliches Versagen den Suizid des Häftlings ermöglicht oder begünstigt haben könnte. Alle Justizvollzugsbediensteten würden „umfassend geschult und ausgebildet“, versichert Brinkmann. „Im Rahmen der Aufarbeitung dieses Einzelfalls werden die Schulungsinhalte gleichwohl nochmals überprüft.“
Überbelegt ist die JVA derzeit nicht: Anfang Juli waren von 377 Haftplätzen 326 belegt. Und mit 281 Bediensteten sei „das vorgesehene Beschäftigungsvolumen quasi vollständig genutzt“, erklärt Brinkmann. Dennoch können Justizmitarbeitende überlastet sein.
„Die Bundesarbeitsgruppe für Suizidprävention berichtet seit 2000 von mindestens fünf Fällen solcher Art“, schreibt Christina Müller-Ehlers, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe in Berlin, der taz. „Es sollten also Einzelfälle sein, da die Unterbringung in den besonders gesicherten Hafträumen dies ja gerade verhindern soll.“ Insgesamt habe es 2023 in deutschen Gefängnissen 96 Suizide gegeben – die höchste Anzahl seit 2001.
Das Niedersächsische Justizvollzugsgesetz (NJVollzG) regelt in § 81, wie Gefangene untergebracht werden, bei denen besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet worden sind.
Das betrifft Häftlinge, bei denen in erhöhtem Maße Fluchtgefahr besteht oder die aufgrund ihres seelischen Zustandes eine Gefahr für andere oder sich selbst sind.
Ist jemand akut suizidgefährdet, verletzt sich selbst oder andere, kann der/die Betroffene von anderen Häftlingen isoliert in einem sogenannten besonders gesicherten Haftraum (auch BgH oder B-Zelle) genannt, untergebracht und dort – auch mit technischen Hilfsmitteln – beobachtet werden, um Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Der Aufenthalt in einer solchen Zelle soll so kurz wie möglich sein.
Bei Gefangenen, die in solchen Hafträumen untergebracht sind, gilt für die Wachhabenden eine höhere Alarmbereitschaft.
„Selbstgefährdende Personen sollten nicht in besonders gesicherte Hafträume, sondern in klinische Einrichtungen verlegt und dort behandelt werden“, so Müller-Ehlers. Mehr noch: „Die Unterbringung in besonders gesicherten Hafträumen erfolgt immer wieder auch bei Personen, die eigentlich eine psychiatrische Behandlung benötigen, für die aber kein Behandlungsangebot besteht.“
„Die Justizministerin muss erklären, wie es dazu kommen konnte“, schreibt Martina Machulla, CDU-Abgeordnete im niedersächsischen Landtag, in dieser Woche in einer Erklärung. Es habe in jüngster Zeit „zahlreiche Vorkommnisse in unseren Haftanstalten“ gegeben. „Der Suizid in kameraüberwachten Hafträumen, Einbringung illegaler Drogen, Alkoholkonsum im offenen Vollzug und die Flucht von Gefangen.“
Machulla bezieht sich auf zwei Vorfälle in der JVA Meppen im Emsland: Häftlinge des offenen Vollzugs filmten sich beim unerlaubten Saufen und zuvor war ein Häftling auf Freigang entkommen – er wurde allerdings einen Tag später wieder einkassiert.
„Wir müssen eine grundlegende Debatte über den Justizvollzug in Niedersachsen führen“, findet Machulla. Man müsse den Justizvollzug „komplett überprüfen“. Niedersachsens Justizministerin Karin Wahlmann (SPD) müsse „schnell ein Konzept vorlegen, wie sie den Justizvollzug wieder sicher machen will“.
Probleme in allen Bundesländern
Derweil ist die Staatsanwaltschaft Braunschweig am Zuge. „Wie bei allen Todesfällen in staatlicher Obhut wurde auch im vorliegenden Fall ein Todesermittlungsverfahren eingeleitet“, teilt Sascha Rüegg der taz mit. Rüegg ist Staatsanwalt und Sprecher der Braunschweiger Behörde. Die Obduktion des Verstorbenen habe nach dem vorläufigen Ergebnis keine Hinweise auf ein Fremdverschulden ergeben.
Bundesweit besonders problemauffällig ist der niedersächsische Justizvollzug übrigens nicht. Aber das ist keine Entwarnung: „Die von Martina Machulla angesprochenen Probleme existieren in allen Bundesländern“, “ so Müller-Ehlers.
Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter 112. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter taz.de/suizidgedanken.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?