Tod eines Schuhmachers: Die letzten Paar Schuhe
Lutz Pariser war ein Schuster alter Schule. Als der 52-Jährige plötzlich verschwand, kümmerte das seine Nachbarschaft. Ein Besuch post mortem.
„Er war einfach plötzlich weg.“ Claudia Jolini steht in der Neuen Schönholzer Straße im Pankower Florakiez vor der Pariser Schuhmacherei. Sie wohnt im selben Haus und kennt den Laden und seinen Inhaber Lutz Pariser. Doch die Rollos der Schusterei sind seit Monaten geschlossen. Anfang November hat die Nachbarschaft per Aushang erfahren, dass der 52-jährige Schuster verstorben ist.
Vergangenen Freitag um 15 Uhr gehen die Rollläden dann doch noch einmal hoch. „Sie wollen Schuhe abholen?“ Hausmeister Frank Reschke macht hier seinen Job. Lutz Pariser kannte er nur flüchtig. Reschke nimmt heute im Auftrag der Hausverwaltung hinter der Schustertheke Platz.
„52 is keen Alter“
Im Rücken rosa Cowboystiefel, schwarze Lederstiefeletten, klobige Boots: 40 Paar Schuhe stehen noch im Regal. Bunte Reparaturmarken verraten: Die meisten sind fertig zur Abholung. Ein Aushang am Rollladen hat die Kunden über zwei Termine informiert, an denen der Laden zur Abholung öffnet. Heute ist der zweite. Reschke stellt klar: „Ick bin bloß der Hausmeister, ick kassiere nur und jebe bis 17 Uhr Schuhe aus.“ In den kommenden zwei Stunden wird Reschke aber noch etwas weicher: „52, det is keen Alter.“
Mit schwarzen Slippern betritt Marlies Blättmann die Schusterei. Sie kommt seit Jahren in den Laden des „bescheidenen, urigen Schusters“, den sie immer gesprächig fand. Familie und Freunde? „Wir haben eher so über Politik gesprochen, nicht über Privates.“ Eigentlich habe sie ja noch ein Paar Schuhe, das repariert werden müsse. Ob Reschke denn wisse, was passiert sei mit dem Herrn Pariser.
„Erst hieß es, er sei im Urlaub, dann, er käme im Oktober wieder“, erzählt Jolini. NachbarInnen und KundInnen hätten Grüße und Genesungswünsche an den Eingang geklebt. Als die Miete des 52-Jährigen ausblieb, habe die Hausverwaltung versucht, Pariser zu kontaktieren. Dann schalten sie die Polizei ein. Der 52-Jährige wird in seiner Wohnung gefunden, in der er am 24. Juli gestorben sein soll. Mitte November erfährt die Hausgemeinschaft davon. Im Flur des Hauses hängt seither ein Abschiedsgedicht für den Schuster.„Er war so jemand, der immer da warm, und man hat ihn trotzdem nie großartig bemerkt“, beschreibt Nachbarin Jolini Lutz Pariser. „Ein ruhiger, etwas einsiedlerischer Typ. Aber jetzt, wo er weg ist, reißt das doch ein riesiges Loch.“
Wie sein Inhaber wirkt auch der Laden zurückgezogen. Ins Innere der Schuhmacherei gelangt man durch einen kurzen, fensterlosen Flur, der genauso gut ein Zeittunnel sein könnte. Wänden, Schuhregalen, Türen und Rahmen haftet eine gelbliche Patina an. Auf einem Plakat werben weiße Damenpumps auf grün-weiß gefliestem Küchenboden für Ersatzabsätze, eine Preistafel mit Illustrationen im Wirtschaftswunderstil ruft ins Gedächtnis, was Schusterhandwerk außer Kleben sein kann. Parisers Laden wirkt in Anbetracht des Handwerkesterbens wie ein Relikt aus vergangener Zeit.
Ein Mann in braunen Segelschuhen betritt die Schusterei. Es dauert einen Moment, bis er redet. „Ich wollte eigentlich nur noch mal vorbeikommen und, ja, tschüss sagen.“ Frank Fischer kennt den Laden seit fünfzehn Jahren. Er sei immer gern „zum Lutz“ gekommen, einer „vom alten Schrot und Korn“, wie Fischer den Ladeninhaber beschreibt. „Solche Läden findet man anderswo nicht mehr.“
Aus dem durch einen groben Stoffvorhang abgetrennten Werkstattbereich holt Reschke ein altes Stern-Kofferradio, steckt es an der Theke ein und dreht am Sucher, bis zeitloses Gedudel ertönt. „Dit is Ostqualität, dit jeht nicht kaputt.“
In den sechziger Jahren eröffnete Lutz Parisers Vater im Ostberliner Bezirk Pankow die Pariser Schuhmacherei. „Ein feiner Herr, immer schick gekleidet“, berichtet ein Kunde. Auch der Sohn wird Schuster. Nicht ganz so schick wie sein Vater und um einiges direkter, meinen die Kunden. 2007 geht Pariser senior in Rente, der pragmatischere Lutz übernimmt den Laden und führt ihn weiter, in altbewährter Manier. Hinweise auf diesen Pragmatismus liefert der Laden selbst. Die Konfektdose auf der Theke dient als Kasse, funktionale Leuchtstoffröhren hängen von den Decken.
Akt des Widerstands
An der Eingangstür kleben aus Folie ausgeschnittene Schuhe, in Schwarz darüber die Öffnungszeiten: „Mo.–Fr. 8.00–17.50, Do. zu“. 17.50 Uhr, weil um sechs Uhr der Bus kommt, erklärt Reschke. Ob Anachronismus, Pragmatismus oder Festgefahrenheit, in Zeiten flexibilisierter Arbeitszeiten jedenfalls ein kleiner Akt des Widerstands.
„Eigentlich hat er nur noch Hacken gemacht“, meint Reschke. Industriell gefertigte Schuhe, so billig, dass sich eine Reparatur nicht lohnt – einer der Hauptgründe für das Aussterben der Schusterbetriebe. „Wenn was Schrott war, dann hat er das auch gesagt“, erzählt ein Kunde, der ein Paar schwarze Lederschuhe abholt. Durch Pariser habe er wieder gelernt, Schuhe zu kaufen.
Parisers Laden lief gut. In den zwei Stunden, in denen Reschke hinter der Theke steht, betreten immer wieder auch Kunden den Laden, die ihre Schuhe zur Reparatur geben wollen. Die Kundschaft sei von überallher gekommen, meist über mehrere Jahre, erzählt eine Nachbarin. Sie wüssten zu schätzen, dass Pariser diese Arbeiten noch machte. In seiner kleinen Werkstatt konservierte Pariser das klassische Schusterhandwerk: echter Dreck statt Vintage Used Look und der Charme des Unveränderten. Das passte auch in den sanierten Pankower Florakiez mit hoher Weinladendichte. Eine Nachfolge für Parisers Laden gibt es trotzdem nicht. Im Laufe der Woche sollen Sanierungsarbeiten beginnen. Die Nähmaschinen hat das Pankower Museum übernommen.
Nach zwei Stunden stehen immer noch 30 Paar Schuhe in den Regalen. „Da entscheidet der Nachlassverwalter drüber.“ Reschke macht den Laden zu und lässt die Rollläden herunter – an diesem Freitag schon um 17.05 Uhr.
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