Tod eines Obdachlosen im Allgäu: „Ich brauche Platz“
Nach der brutalen Attacke eines 17-Jährigen starb Martin H. Anfang Mai in Immenstadt. Wie geht der idyllische Ort im Allgäu mit dieser Tragödie um?
„Ich hab ihn immer als liebevollen Menschen wahrgenommen“, erzählt Tina Thaqi, eine 34 Jahre alte Frau aus Immenstadt. „Er war stets freundlich.“ Doch nun ist er nicht mehr da. Am 6. Mai spätabends ist der Obdachlose von einem 17-jährigen Immenstädter am Bahnhof zusammengeschlagen worden, laut Staatsanwaltschaft waren drei weitere Jugendliche dabei. Am Tag darauf fand man Martin H. im Eingang einer Bank in lebensbedrohlichem Zustand, er starb in der Klinik auf der Intensivstation. Die Obduktion ergab Hirnblutungen als Todesursache.
Über die Gewalttat aus dem als so beschaulich angesehenen Allgäu im Südwesten von Bayern wurde in ganz Deutschland berichtet. Jugendlicher Intensivtäter erschlägt Obdachlosen brutal, so oder ähnlich lauteten die Überschriften. Der 17-Jährige kam schnell in Haft, denn H. hatte die Attacke noch selbst bei der Polizei angezeigt und eine Beschreibung des Täters abgegeben. Laut Süddeutscher Zeitung wurde er bei der Polizei offenbar nicht von einem Notarzt untersucht. Er wollte gehen, man ließ ihn.
In Immenstadt bleiben die Fragen. Warum ist das passiert? Wer war der Täter? Und wer das Opfer, dieser 53 Jahre alte Martin H.? Was sagt das über Jugendgewalt aus und mögliches Versagen – von Behörden, Jugendhilfe, Eltern? Wie sieht Obdachlosigkeit im gegenwärtigen Deutschland aus, wie gefährdet sind diese Menschen? Und wie verfehlt ist die Sozialpolitik? Plötzlich liegt das Städtchen Immenstadt mit seinen 15.000 Einwohnern verdichtet wie unter einem Brennglas.
Ein extrem guter Fußballspieler
Martin H. war gebürtiger Immenstädter. Lernte Fliesenleger, machte den Meister. „Er war fleißig und immer mit dabei“, sagt Herbert Gruber, der heute dem Fußballverein Immenstadt 07 vorsteht und wie H. 53 Jahre alt ist. Gruber ist einer der Menschen außerhalb der Familie, die H. in der früheren Zeit ganz gut gekannt hatten. Für das Gespräch schlägt er nicht eines der Cafés in der schmucken Altstadt vor, sondern das Vereinsheim am Fußballplatz. Das Areal ist in den bayerischen Pfingstferien verwaist, keiner ist hinter dem Tresen, der etwas ausschenkt.
Hier hatten Gruber und Martin H. ihre gemeinsame Vergangenheit. „Er war ein extrem guter Fußballspieler, Mittelstürmer, viel besser als ich“, erinnert sich der Vorsitzende. So mit 15, 16 Jahren haben sie sich kennengelernt in der B-Jugend, das war um 1986. H. hatte und hat Familie in Immenstadt. Man sprach über Fußball und über Handwerkssachen – „da war er sehr begabt“. Zehn oder zwölf Jahre später hörte es mit dem Fußball auf. „Die Wege haben sich eben getrennt, das lebt sich auseinander“, sagt Gruber mit seinem schwäbisch-allgäuerischen Spracheinschlag.
Wann Martin H. Immenstadt verlassen hat, wohin er gegangen ist, nach Berlin oder woanders hin, kann Gruber wie auch sonst niemand sagen. Als er dann im Februar dieses Jahres zurückkehrte, hat er ihn einmal ganz kurz am Bahnhof gesprochen – „hallo, wie geht’s, oder so“. Nun meint Herbert Gruber über die Tat: „Man denkt, man lebt hier in einer heilen Welt.“
Zwölf Intensivtäter hat das Polizeipräsidium in Kempten für Immenstadt registriert, der 17-jährige Verdächtige ist einer davon. Zwölf sind recht viele, im ganzen Landkreis Oberallgäu sind es 60. Oberstaatsanwalt Thomas Hörmann gibt Auskunft, dass gegen den mutmaßlichen Täter bereits wegen Einbruchsdiebstählen, Bedrohung und einfacher Körperverletzung ermittelt worden sei. Polizeisprecher Holger Stabik erzählt von dem Programm, in das Intensivtäter kommen, ob sie wollen oder nicht: „Wir bieten Kontakt zur Jugendhilfe an, wir reden ihnen ins Gewissen.“ Man zeige auch: „Wir haben dich auf dem Schirm.“ Ziel sei es, „kriminelle Karrieren zu erkennen und zu unterbrechen“.
„Deutschlands beliebtester Obdachlose“
Über das Oberallgäu an sich meint Stabik: „Die Sicherheitslage ist bei uns besonders gut. 2022 habe es im ganzen Landkreis zwei Morde und versuchte Morde gegeben, 2023 waren es drei. „Alle Fälle wurden aufgeklärt.“
Dass es Martin H. noch gab, hatte man in Immenstadt aus dem Fernsehen erfahren, als der Sender RTL im November 2021 die Doku „Ein Leben auf der Straße“ ausstrahlte. Darin wurde H.s Leben in Berlin gezeigt, er wurde zu „Deutschlands beliebtestem Obdachlosen“ ausgerufen. Zu sehen ist H. an seiner Behausung in Kreuzberg auf einer Verkehrsinsel am Mehringdamm Ecke Yorckstraße.
Er erscheint als bestens gelaunter Mann, der mit den Leuten quatscht und seine Kunst zeigt, kleine Installationen aus Metall und anderem Material von der Straße. Er hat einen buschigen braunen Bart, trägt eine graue Kappe und sagt, sein Domizil sei „fast ein Freistaat“. Wenn er nicht auf der Gitarre klimpert, hält er eine Selbstgedrehte in der einen und eine Flasche Bier in der anderen Hand. Über seine Obdachlosigkeit meint er: „Ich brauche Platz, in der Wohnung kann ich nicht denken.“
Man erfährt, dass er mehrere Schlaganfälle erlitten hatte und im Krankenhaus im Koma gelegen war. Nur mit der Polizei legt er sich an, die ihm das offene Feuer auf einem kleinen Grill verbietet. Deshalb wurde der Platz am Ende geräumt, und von Martin H. fehlte jede Spur. H. stellte sich dar als freiheitsliebender Mensch und auch als Allgäuer Sturkopf. Laut RTL ist er nach Immenstadt zurückgekehrt, um Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen.
In Kempten bei der Wärmestube und der Übernachtungsstelle des Roten Kreuzes für Obdachlose und Menschen in Not hört und sieht man andere Dinge. „Die Menschen haben Angst, sie verstecken sie“, sagt die Leiterin Katrin Wassermann. „Es herrscht eine große Scham.“ Der Tod von Martin H. wurde hier schon registriert, gesprochen hat man aber kaum darüber. Und von den Obdachlosen ist auch keiner bereit zu reden.
In der Notübernachtungsstelle ist Platz für elf Menschen. Es kommen Männer, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurden, in Kempten Gestrandete von irgendwoher, solche, die wohl illegal auf dem Bau gearbeitet haben, einen schweren Unfall erlitten und ohne irgendetwas auf die Straße geworfen worden sind.
Obdachlosigkeit nimmt in Deutschland ebenso zu wie Gewalt gegen Obdachlose. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hat sich in Deutschland die Zahl der Wohnungslosen von 2022 zu 2023 auf 372.000 Menschen verdoppelt. Als wohnungslos gilt, wer keine eigene Wohnung hat, aber einen Platz und eine Anschrift in einer Notunterkunft. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Obdachlose hingegen haben auch einen solchen Platz nicht, ihre Zahl wird auf 50.000 deutschlandweit geschätzt.
Die Gewaltkriminalität gegen Wohnungs- und Obdachlose ist – ebenfalls laut Bundesregierung – von 2018 bis 2023 um knapp 37 Prozent gestiegen. Überproportional gefährdet sind Frauen durch sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung. Wie viele Menschen durch Hasskriminalität von Rechtsradikalen oder anderen Opfer wurden, erfasst die Polizeistatistik nicht.
Tina Thaqi, die 34-jährige Immenstädterin, ist Lehrerin, sitzt für die Grünen im Stadtrat und ist zuständig für Jugendarbeit. „Wir haben ein tolles Jugendhaus mit tollen Angeboten, mit Pädagogen vor Ort“, berichtet sie. Es gebe sehr viele Vereine, auch für junge Menschen, an den Schulen kümmere man sich um Gewaltprävention. Es seien mehr Sozialpädagogen im Einsatz als anderswo. Aber: „Die Kinder, die das erreichen soll, erreicht es oft eben nicht.“
Sie verlangt eine Antwort auf die Frage, warum Martin H. so attackiert worden ist: „Lust, Aggressivität, Hass, Langeweile?“ Und die Grüne sagt: „Es muss eine Konsequenz folgen, härtere Strafen müssen her.“ Das hört man in Immenstadt jetzt häufig.
Es war unstrittig eine Gewalttat. Von Totschlag oder gar Mord kann man derzeit nicht sprechen. Denn niemand weiß, ob Martin H. ursächlich aufgrund der Attacke die Gehirnblutungen erlitten hat. Mit dem medizinischen Gutachten ist laut Staatsanwaltschaft „frühestens“ in zwei Monaten zu rechnen.
„Wir haben manchmal einen oder zwei Obdachlose in Immenstadt“, erzählt der Bürgermeister Nico Sentner, „mehr nicht.“ Sentner ist 38 Jahre alt, parteipolitisch unabhängig und wird unter anderem von der CSU unterstützt. Am Telefon atmet er schwer, wenn er sagt, er sei „weiterhin entsetzt, fassungslos“. Die Stadt habe eine Wohnung für solche Fälle, er habe sie H. angeboten. „Doch der wollte nicht.“ Als es nach Ostern noch einen Wintereinbruch gab, ist er zu Martin H. und hat erneut vorgeschlagen: „Komm, geh doch in die Wohnung, es ist kalt, dir wird’s nass.“ Ohne Erfolg.
Die Allgäuer Zeitung berichtet, dass Martin H. am 22. Mai auf dem Friedhof im nahen Sonthofen beerdigt wurde. Die Angehörigen hatten die Medien darum gebeten, von einer ausführlichen Berichterstattung über die Trauerfeier abzusehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern