Tod eines Kindes in Gaza: „Ich sah sie an, und sie war leblos“
Israel lässt zu wenig mobile Unterkünfte nach Gaza passieren. Für die kleine Shaam al-Shanbari endet die Winterkälte im Zelt tödlich.
Eine Holzkonstruktion bildet eine Art Scheune, darüber hat die Familie Plastikplanen gespannt – ein selbst gebautes Zelt. Eine der Planen ist bedruckt mit dem Schriftzug des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, Unicef. Auf dem Boden sind dünne Teppiche ausgelegt. Kleine Löcher in den Planen lassen das Licht durchblitzen. Die Behausung bietet kaum Schutz: nicht vor dem Wind, der vom Meer hereinbläst, und nicht vor den kalten Temperaturen, die in Gaza in den Wintermonaten vor allem nachts oft unter 10 Grad fallen.
Ende Februar, etwa anderthalb Monate, nachdem die Waffenruhe begonnen hat, sitzt al-Shanbari nachts in dem Zelt und friert. „Ich konnte die Kälte kaum ertragen“, sagt er. „Wie sollten meine Kinder sie ertragen?“ In Decken habe er sie gehüllt: die vierjährige Ghazal, den zweijährigen Mohammed und Töchterchen Shaam. „Ich sah sie an, und sie war leblos“, erzählt er. Er habe sofort einen Krankenwagen gerufen. Der bringt sie in das Europäische Spital in Chan Yunis.
„Das Kind der Familie al-Shanbari kam in unser Krankenhaus ohne bekannte Vorerkrankungen. Sie starb an einem Herzinfarkt – wegen schwerer Unterkühlung“, sagt Ahmed al-Fara, Leiter der Chirurgieabteilung des Europäischen Spitals. Und erklärt: „Stellen Sie sich einmal vor – die Körpertemperatur eines Kindes fällt auf 30 Grad, wenn sie zwischen 36,5 und 37,5 Grad sein sollte. Hypothermie bei Kindern führt zu schwerem Organversagen, in extremen Fällen zum Herzinfarkt“.
Ahmed al-Fara, Leiter der Chirurgie im Europäischen Spital Khan Younis
„Wo sich Kinder aufhalten, muss geheizt werden“
Shaam al-Shanbari sei nicht das erste Kleinkind gewesen, das jüngst an Unterkühlung gestorben sei, erzählt er. Er wisse von drei weiteren Fällen im Norden des Gazastreifens und von einem weiteren Fall im Nasser-Spital. Solche Todesfälle zu vermeiden, sei eigentlich einfach, sagt er: „Wo sich Kinder aufhalten, muss angemessen geheizt werden. In Zelten und beschädigten Gebäuden ist das nicht möglich.“
Sein Kollege Salem al-Arjani, Leiter der Pädiatrie, sagt, nicht einmal das Krankenhaus könne man richtig heizen, es fehle an Sprit für die Generatoren. Al-Fara betont: „Die wahre Lösung ist es, die Besatzung [Israel; Anm. d. Red.] zu zwingen, die Grenzübergänge zu öffnen – für Baumaterialien und für mobile Häuser.“
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In der ersten Phase des Waffenstillstandsabkommens, so ist es darin vereinbart, soll Israel 200.000 Zelte und 60.000 mobile Häuser in den Gazastreifen hineinlassen – ebenso Equipment zum Räumen der Trümmer, also zum Beispiel Bulldozer.
Doch bisher haben nur ein paar Zehntausend Zelte die Grenzübergänge passiert – und 15 mobile Häuser, berichtet die spanische Nachrichtenagentur EFE. Nach Angaben des Independent habe Israel die Mobilheime sowie große Zelte auf die Liste der Güter setzen lassen, die eine zusätzliche Inspektion durch Israel benötigten. Am Samstag ging die erste Phase der Waffenruhe zu Ende. Über die zweite Phase – oder eine Fortführung der ersten – wird derzeit verhandelt. Wohl um Druck auf die Hamas im Gazastreifen aufzubauen, hat Israel am Sonntag angekündigt, keine humanitäre Hilfe mehr in den Gazastreifen zu lassen.
Vor dem Krieg war das Leben gut, sagt der Vater
Auch ein Rückzug der israelischen Armee aus dicht besiedelten Gebieten und dem Netzarim-Korridor, der während des Kriegs Nord- von Süd-Gaza trennte, ist im Abkommen vereinbart. Viele Bewohner von Nord-Gaza konnten ab Ende Januar so in ihre Heimat zurückkehren – wenn auch oft nicht in ihre Häuser. Die Familie al-Shanbari bleibt vertrieben: Denn laut dem Abkommen darf die israelische Armee nahe dem Grenzzaun stationiert bleiben. Und die Wohnung der Familie befindet sich nahe dem Grenzübergang Erez zu Israel.
Also bleibt die Familie in ihrem Zelt, in der Hamad-Wohnsiedlung in Chan Yunis. Die Familie ist in den Kriegsmonaten seit dem 7. Oktober 2023 von einem Unterschlupf zum nächsten geflohen: „Von Beit Hanun nach Dschabaliya“, erzählt al-Shanbari, „dann nach Maghazi“, das von der israelischen Armee lange als humanitäre Zone definiert wurde. „Dann nach Rafah“, sagt er – bis dort das israelische Militär einrückte. „Dann nach Chan Yunis, dann ins Viertel Hamad“ – vor dem Krieg ein gediegenes Retortenviertel mit sandfarbenen Wohnblöcken, heute teils zerstört. Einmal seien sie nach dem Beginn der Waffenruhe gen Norden gezogen: „Dort gab es nichts, keine Unterkünfte, kein Trinkwasser, kein Leben.“ Sein früheres Zuhause dort, sagt er, existiere sowieso nicht mehr.
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Vor dem Krieg, sagt al-Shanbari, sei das Leben gut gewesen. Er habe als Bauarbeiter genug verdient, um die Familie zu ernähren. Doch seit Beginn des Kriegs fehlt der Familie das Einkommen. Sie hätten kaum die 20 Schekel für die Bestattung der kleinen Shaam zusammengebracht – umgerechnet 5 Euro. Sie liege nun in einem Grab auf dem Friedhof von Chan Yunis, weit weg von daheim. Der Krieg müsse endlich enden.
Der Arzt al-Arjani hofft auf die zweite Phase des Waffenstillstandsabkommens – so sie denn kommt: „Dann könnten wir hoffentlich besser medizinische Hilfe leisten.“ Zu spät für Shaam, nicht aber für andere Kinder. Al-Shanbari gibt den arabischen Staaten eine Mitschuld: „Sie tun nichts, kümmern sich nur um sich selbst. Unsere Kinder sterben auf den Straßen – und niemand fühlt unseren Schmerz.“
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