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Theaterstück über gezüchtete MenschenTodgeweihte in der Pubertät

Die Braunschweiger Adaption des Romans „Alles, was wir geben mussten“ erzählt höchst intensiv von humanen Klonen, die medizinisch ausgebeutet werden.

Stiller Schmerz: Szene aus dem Stück „Alles, was wir geben mussten“ in Braunschweig Foto: Björn Hickmann/stage picture

Eine Treppe führt nach oben ins Freie. Flucht ist also möglich für die Freundesclique im leeren Schwimmbecken. Eine Flucht nach draußen, wo auch Kindergeschrei zu hören ist. Aber niemand klettert einfach mal raus. Alle verharren in der Versenkung wie Gefangene. Sitzen entgeistert in der Ecke, hängen derangiert an der Leiter, schleichen an den Wänden entlang oder tigern im Kreis herum, als wären sie hospitalisierte Zootiere.

Drei Dar­stel­le­r:in­nen von Heranwachsenden aus dem Roman „Alles, was wir geben mussten“ des englischen Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro hat Regisseurin Felicitas Brucker auf der kleinen Bühne des Staatstheaters Braunschweig versammelt. Wie in der Vorlage tritt Kathy (Nina Wolf) als Protagonistin hervor, macht sich als Ich-Erzählerin kenntlich und beginnt ihre Lebenserinnerungen in eine Kamera zu sprechen – bald steigen die Kolleg:in­nen ein, um die Rückblickszenen auch zu spielen.

Nach dem Schulabschluss müssen sie so lange als Betreuer ihresgleichen arbeiten, bis sie selbst Betreuung brauchen. Denn alle gehören zu einer Gruppe humaner Klone, gezüchtet als Ersatzteillager der Menschheit. Ihnen werden auf betuchte Nachfragen von Kranken die Eingeweide entnommen oder Körperteile amputiert.

Grausamer ist die kapitalistische Instrumentalisierung des lebenstragenden Körpers kaum darzustellen. Gibt es doch längst nicht mehr nur das Blut als umsatzstarkes Produkt, der ständig steigende Bedarf an Transplantationen hat den globalen Organhandel kommerziell einträglich gemacht mit teilweise mafiösen Strukturen.

Alle gehören zu einer Gruppe humaner Klone, gezüchtet als Ersatzteillager der Menschheit

Autor wie Regie lassen nun aber keinen bösen Kapitalisten der Reproduktionsmedizin auftauchen, auch ein strubbelhaarig verrückter Professor fehlt im Stückpersonal als Sinnbild der moralischen erodierenden Biotechnologie, die Erbgut lebendiger Wesen manipuliert und dupliziert.

Statt auf die mahnend gruselnde Science-Fiction-Dystopie zu setzen, widmet sich Felicitas Brucker höchst präzise dem Erwachsenwerden als Einübung vorgefundener Regeln und Hierarchien. Dabei ist das Schwimmbecken keine Erfindung der Bühnenbildnerin. Es fungiert bereits im Roman als Rückzugsort der Jugendlichen und funktioniert nun trefflich als symbolischer Ort unbehausten Daseins sowie für ein Gefühl der Ausweglosigkeit und Bedrohung.

Die abgeschottet lebensfeindliche Anmutung passt auch prima zum Handlungsraum Eliteinternat. So wie auf einem Bio-Bauernhof glückliche Schweine im echten Matsch vor der Stalltür gezüchtet werden, um später als Schlachtopfer den Kon­su­men­t:in­nen einen Fleischgenuss mit reinem Ökogewissen zu ermöglichen, haben bei Ishiguro ethisch besorgte Bürger:in­nen die Klonaufzucht nach bildungsbürgerlichen Standards ausgerichtet, um später einmal ihre neue Leber mit gutem sozialen Gewissen anfordern zu können.

Die Schü­le­r:in­nen sind durch die Abwesenheit von Familie und Außenwelt stark auf sich selbst zurückgeworfen. Die etwas kapriziöse Ruth (Larissa Semke) sucht mangels Eltern besonders dringlich nach ihrem Original, dessen Gene sie besitzt. Aber der Alltag der pädagogischen Anstalt scheint banal-normal, die Adoleszierenden necken und inszenieren sich, probieren Gesten und Zitate von Filmstars aus, entwerfen träumend Ich-Möglichkeiten und mobben Außenseiter wie den fragilen Tommy (Robert Prinzler).

Tommy gehorcht nicht dem strengen Erziehungsstil und hat auch keine Lust, sich dem Zwang zu unterwerfen, für eine ominöse Madame ständig neue künstlerische Äußerungen zu produzieren. In einer Galerie werden diese ausgestellt – als Erinnerung und Beweis für die beseelte Existenz der geklonten Wesen. Das legt die Aufführung nahe: Auch wenn Kinder nicht auf dem Küchentisch der leiblichen Eltern, sondern im Reagenzglas gezeugt werden, Klone sind Menschen wie du und ich.

Aus den Internatskindern werden pubertäre Jugendliche, sie verlieben sich, haben ersten Sex, eifersüchteln, lästern über Lehrer, denken an Selbstmord oder machen Zukunftspläne, wollen beispielsweise Meeresbiologin oder Polarforscher werden. Aber ihnen ist anderes bestimmt. Sie wissen das und bleiben allein unter ihresgleichen im Schwimmbecken, zunehmend verunsichert in ihrer unerfüllten Sehnsucht, das Meer, die Welt, das Leben zu entdecken. Mit verstörender Spielintensität taucht das Ensemble in die Rollen ein und nimmt die anrührend aussichtslose Coming-Of-Age-Story schonungslos ernst.

Die Verkörperungen von stillem Schmerz funktionieren in der Live-Spielsituation des Theaters viel eindringlicher als in Mark Romaneks Verfilmung des Stoffes (2010). Wirken die verlorenen Teenie-Charaktere doch so herzlich offen, neugierig und erwartungsfroh sinnsucherisch, gleichzeitig aber müssen sie Verdrängungsweltmeister ihrer Situation sein, um nicht in Depressionen zu verfallen. So entwickelt die Bühnenhandlung einen tragischen Sog – in den Tod. Weil das euphemistisch „Spenden“ genannte Ausgeweidetwerden geduldet, ja, sogar als Ehre, soziale Tat, als Pflichterfüllung empfunden wird.

Das Stück

„Alles, was wir geben mussten“, Staatstheater Braunschweig. Nächste Termine: Mittwoch, 1. 12., 19.30 Uhr; Donnerstag, 16. 12., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig

Diesem Zwiespalt zuzuschauen, der jede Lebensäußerung dämpft und verdunkelt, macht traurig und wütend. Denn es drängt die Frage: Warum wehren die sich nicht? Man möchte geradezu auf die Bühne stürmen und Kathy, Tommy, Ruth wachrütteln. So schnell sind sie einem in ihrer Hilflosigkeit ans Herz gewachsen. Und genau darum geht es hier wohl. Da die Rahmenbedingungen halbwegs okay sind, also alle ohne materiellen Mangel zu kultivierten Menschen herangezogen werden, akzeptieren sie den Status quo und damit auch ihren viel zu frühen letalen Abgang, anstatt ins Ungewisse zu revoltieren.

Brucker inszeniert die Sozialpsychologie der trägen Masse, die durch anerzogene Gewöhnung ein System der Unterdrückung, Ausbeutung bis hin zur Selbstaufgabe als selbstverständlich hinnimmt und durch Widerstandsverzicht bestätigt. So bekommt die Romanadaption einen höchst politischen Dreh – in dieser packenden, vor abgründig stummer Verzweiflung vibrierenden Inszenierung.

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