Theaterstück „Selfie & Ich“: Glücksterror in Neukölln
Christiane Mudra erzählt mit ihrem mobilen Theaterstück vom Alltag psychisch Erkrankter. Thema ist auch die Psychiatriegeschichte in Deutschland.
Als Sonja zur Haustür hineinstürzt, bricht sie zusammen. Im Schutz ihrer Kreuzberger Wohnung muss sie keine Fassade aufrechterhalten, muss ihre Angst, ihre Nervosität, ihr Herzrasen und ihr Minderwertigkeitsgefühl nicht mehr verstecken. Und während Sonja ihre Alltagskämpfe gegen ihre Angststörung, gegen ihre Alkoholabhängigkeit, gegen ihre Einsamkeit austrägt, steht das Publikum der Theaterarbeit „Selfie & Ich“ mit ihr in der Wohnung.
Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie sind fast ein Drittel, 27,8%, aller Erwachsenen innerhalb eines Jahres von einer psychischen Erkrankung betroffen. Doch vom Alltagsleben mit einer psychischen Krankheit ist wenig bekannt. „Ich habe bemerkt wie viel Wissen fehlt, wie ablehnend und negativ Reaktionen häufig sind. Ich wollte Betroffene zu Wort kommen lassen, wollte so nah wie möglich an den Alltag und die kleinen Kämpfe herankommen“, sagt die Regisseurin und Autorin von „Selfie & Ich“, Christiane Mudra.
Die Regisseurin hat einen ortsspezifischen, investigativen Theaterabend zu „psychischen Erkrankungen, Leistungsgesellschaft und Glücksterror“ erarbeitet. Uraufgeführt wurde das Stück 2022 in München, nun ist es in Berlin. In vier Neuköllner Wohnungen ist das Publikum – eine etwa 10-köpfige Gruppe – zu Gast, nähert sich Protagonist*innen, Alltagen, Krankheitsbildern an. Die Performer*innen leben dort in Echtzeit, eine 3D-Soundcollagen bringt den Gästen auf Kopfhörern das Erleben und Empfinden der psychisch Erkrankten näher.
„Selfie & Ich“: Tickets und Infos. Der Treffpunkt in Neukölln wird beim Ticketkauf bekannt gegeben. Weitere Aufführungen 20. und 21. September 19 Uhr 20 Uhr
Christiane Mudras investigatives Theater geht jahrelange journalistische Recherche voraus. Sie arbeitet mit Originalquellen, in Archiven und Literatur, begeht Orte, spricht mit Betroffenen. Dokumentiert nicht nur, sondern forscht nach, untersucht, deckt auf. Und lässt anschließend die Zuschauenden, ohne Voyeurismus, ebenso untersuchen und erkunden. Zuletzt entwickelte sie so „The Holy Bitch Project“ zu Gewalt an Frauen und „Der Schlüssel“ zum Thema Verschwörungstheorien. „Selfie & Ich“ ist nun der erste Teil einer Trilogie. In der forscht sie einerseits zur Bewertung und andererseits zum Wert von Menschen.
Gefühl von Wertlosigkeit
Das Stück isoliert und stigmatisiert dabei psychische Krankheiten nicht. Es zeigt hingegen die Entstehungsbedingungen, zeigt wie eine leistungsgetriebene Gesellschaft krank machen kann. Und wie eben jene Dogmen von Leistung, Erfolg und Glück psychisch erkrankte Menschen auch weiterhin krank halten. Weil das Gefühl von Wertlosigkeit, von Verzweiflung und Scham so groß ist, dass man sich lieber verschließt, als zuzugeben, dass es einem nicht gut geht. Weil man sich lieber selbst für das eigene Versagen verantwortlich macht, als die Verhältnisse öffentlich zu hinterfragen.
Mit dem Trinken angefangen hat Protagonistin Sonja gegen den Stress, gegen die Erwartungen, um herunter zu kommen, nach einem Highperformance-Leben. Mit dem Alkohol kam die Scham, das Doppelleben, die Vereinsamung. „Was war zuerst: Die Henne oder das Ei? Die Angst oder der Alkohol?“. Die Soundcollage verdichtet Sonjas inneren Monolog, Geräuschkulissen, und O-Töne von Betroffenen: „Wenn alle einfach einmal aufhören würden immer zu sagen, dass es ihnen super geht, dass bei ihnen alles perfekt ist“, hört man die Stimme einer Betroffenen. Dann sind die 20 Minuten mit Sonja vorbei, das Publikum zieht weiter.
Während die Teilnehmenden mit den rot-leuchtenden Kopfhörern mitten durch belebte Kreuzberger Straßen zwischen den Wohnungen umher laufen, erweitert sich das Theaterstück um eine historische Dimension: Erzählt wird von der Krankenakte von Horand S. Ihm wurde in den 1930er Jahren eine Schizophrenie diagnostiziert, 1939 wurde er im Rahmen der NS-Euthanasie in eine sogenannte Heil- & Pflegeanstalt eingewiesen. Dort blieb er bis 1984. Anhand seiner Krankenakte zeigt sich von 1939 bis 1984 die Psychiatrie-Geschichte in Deutschland, die Ausgrenzung und das Wegsperren, die umkämpften Reformbestrebungen.
Über den Abend hinweg betritt man drei weitere Wohnungen, erlebt den Alltag von Menschen mit depressiven Störungen, mit Schizophrenie und Magersucht. Sind die jeweiligen Krankheitsbilder zwar unterschiedlich, ähneln sich doch die Erfahrungen der Betroffenen mit ihrem Umfeld. Sie fühlen sich beobachtet, bewertet, verurteilt. Die Scham nicht dem Leistungsanspruch unserer Gesellschaft zu entsprechen, führt zu Geheimnissen, Isolierung, Kontaktabbruch. Unter dem Spannungsfeld zwischen Sein und Schein, zwischen innerem Leidensdruck und äußerem Leistungsdruck, leiden alle vier Protagonist*innen.
Es ist eine eindringliche, beeindruckende und berührende Erfahrung, und es ist ein Theaterstück, das die Zuschauenden fordert. Die Nähe zu den Darstellenden, die Anwesenheit und die direkte Begegnung im Raum verlangt eine eigene Positionierung. „Das ist mir wichtig zu nutzen, sehr nah an die Menschen ranzugehen, dass man sich nicht entziehen und zurücklehnen kann sondern mitten im Geschehen ist und sich in einer Form Verhalten muss.“, so Mudra. Das kollektive Wegschauen, das Ignorieren und Isolieren, das gesamtgesellschaftliche Versagen im Umgang mit psychischer Erkrankung, lässt Mudra nicht durchgehen.
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