Theaterfestival in Litauen: Auch die Sirenen wollen mehr Gehalt

In der Hafenstadt Klaipeda trifft sich die Theaterszene Litauens. Bei einem Festival verhandeln sie MeToo und den Umgang mit russischen Künstlern.

Eine Gruppe halbnackter Frauen steht auf der Bühne

Fleischgewordene Männerfantasie: Szene aus Laura Kutkaités „Die Stille der Sirenen“ Foto: Domas Rimeika

Das Feuer aus dem 3. Akt ist so ziemlich das Einzige, was von Anton Tschechows „Drei Schwestern“ bleibt: Eine Höllenmaschine von Theater ist hier entfesselt, immer mehr Brandherde brechen auf, Feuerexplosionen knallen. Doch Olga sitzt ruhig auf einem Stuhl im neorealistischen Wohnungsinterieur, geisterhaft sitzt eine Frau hinter ihr, krachend fällt der Kronleuchter – doch sie wirkt glücklich, nichts kann ihr etwas anhaben.

Und dann ist der ganze Illusionszauber weg, Natascha, die nervige Schwägerin, stolpert auf die Bühne und gibt Abnehmtipps – und will am liebsten aussehen wie Michèle Morgan im Jean-Gabin-Film „Quai des brumes“, der prompt auf der Leinwand läuft.

Die Inszenierung „Fragment“ des berühmten russischen Regisseurs Dmitry Krymov am Dramatheater Klaipeda in Litauen ist ein Labyrinth aus Wahrnehmungsschichten, ein atemberaubender Abgesang auf die rasende Sinnsuche des Menschen. Ein Fahrstuhl fährt loop­artig in die Hölle des Immergleichen, die Kulisse verschwindet magisch, wird neorealistisch neu gezaubert, wieder abgebaut.

Eine seltsam kathartisch-katastrophische Verbindung hat das krasse Bühnenfeuer auch zum Regisseur selbst. Kurz nachdem Dmitry Krymow zu Kriegsbeginn 2022 aus Moskau nach New York geflohen war, brannte seine Wohnung auf der Upper West Side ab, neun Tage lang lag er im Koma. War es russische Brandstiftung, weil Krymov einen Protestbrief an Putin mitunterzeichnete, all seine Stücke in Russland sind längst abgesetzt? Und wie viel Raum darf man russischen Autoren und Regisseuren heute im Theater geben, auch wenn sie mit Putin nichts zu tun haben?

Beim „Theatrium“-Festival in der litauischen Hafenstadt Klaipeda ist das ein ständiges Thema, viele ukrainische Künstler haben in Litauen Zuflucht gefunden – etwa Stas Zhyrkow, der nun sogar in der künstlerischen Leitung des „State Small Theatre of Vilnius“ sitzt. Beim Theatrium-Festival ist er mit Pawlo Aries „Tagebuch des Überlebens“ zu sehen.

„Eines Tages in Zukunft ein neues Russland bauen“

Und doch haben Festivalleiter Tomas Juočys und eine Jury sogar zwei Tschechow-Inszenierungen aus rund 50 Bewerbungen ausgewählt. „Wir respektieren natürlich die Aussage des ukrainischen Kulturministeriums, dass wir keine russischen Autoren spielen sollen. Doch wir brauchen Künstler wie Krymow, um eines Tages in Zukunft ein neues Russland zu bauen“, sagt er.

Auch die vierstündige Inszenierung der „Möwe“ des jungen litauischen Regisseurs Jokubas Brazys bricht mit herkömmlichen Tschechow-Vorstellungen: Radikal legt er die gewaltvoll-partriarchalen Strukturen des Stücks offen, wenn etwa der Schriftsteller Trigorin die Hauptfigur Nina am Ende brutal vergewaltigt, anstatt sie nur zu verlassen.

Elf Stücke, die interessantesten der vergangenen Spielzeit, werden im litauischen Dramatheater in der Hafenstadt gezeigt. „Theater spielt eine große Rolle bei der Transformation der Gesellschaft“, bestätigt auch Tomas Juočys – rund 10 Staatstheater gibt es im Land, dazu rund 200 freie Gruppen. Die schöne Hafenstadt Klaipeda ist dabei nicht unbedingt eine Theatermetropole, sondern eher für Störche und Basketball bekannt. Mit ihren rund 167.000 Einwohnern ist sie aber die drittgrößte Stadt des Landes, das auch nur 2,8 Millionen Einwohner hat. Thomas Mann hatte einst ein Ferienhaus an den endlosen Ostsee-Sandstränden.

Der russische Angriffskrieg ist allgegenwärtig in Litauen, dem Deutschland und Russland in seiner Geschichte übel mitgespielt haben. Vor dem Theater, in dem das Festival stattfindet, hielt Hitler im März 1939 eine Rede bei der Annexion des Memellandes. Nach dem Zweiten Weltkrieg wüteten die Sowjets, rund 250.000 Litauer wurden deportiert. Erst seit rund 30 Jahren ist Litauen unabhängig, liegt aber bedrohlich eingeklemmt zwischen Belarus und der hochgerüsteten russischen Enklave Kaliningrad.

Finanziert wird das Theaterfestival mit seinen rund 200.000 Euro Budget zu zwei Dritteln von örtlichen Wirtschaftsunternehmen. Denn Litauen, das baltische Land mit seinen 2,8 Millionen Einwohnern, will aufwachen aus seinem Dornröschenschlaf, Theater wirkt hier wie eine Vorhut zu Tourismus und großem Geld. Aber vieles im Showcase wirkt auch wie eine Vorhut zu einer freien, modernen Gesellschaft – denn die Themen und Formen sind überraschend zeitgenössisch, provokant und radikal.

Wie fleischgewordene Männerfantasien

Wie fleischgewordene Männerfantasien räkeln sich die vier Sirenen in „Die Stille der Sirenen“ von Laura Kutkaité auf dem Felsen. Um wenig später aufzuspringen, um ihre letzte klägliche Gehaltsverhandlung nachzuspielen – oder das letzte demütigende Casting. Sich vor allen ausziehen – nachts zur Probe bestellt zu werden – das Thema „willenloses Fleisch“ improvisieren. Souverän, lustig, aber ziemlich niederschmetternd performen die vier, was einer Frau bei ihrer Theaterkarriere so alles passieren kann.

Als sie bei einer Podiumsdiskussion ein MeToo-Outing nachstellen, ruft eine Frau aus dem Zuschauerraum, sie hätten ja selber Schuld. Wollten ja nur berühmt werden. Ein inszenierter Einwurf, der die Argumente der MeToo-Gegner in Litauen gut zusammenfasst, wie die Schauspielerinnen Aisté Zabotkaité und Gerda Čiuraitė danach bestätigen: „Als die MeToo-Debatte vor vier Jahren in Litauen aufflammte, war sie sofort wieder verschwunden, weil so viele Menschen dagegen arbeiteten, oft waren es Frauen. Es ist zum Verzweifeln, wie wenig sich hier tut. Oft sagen die Leute nach dem Stück: Tja. Es ist eben, wie es ist.“

Ihre einzige Hoffnung sei, dass eine junge Generation von Regisseurinnen momentan oft erfolgreicher sei als Männer. Die Inszenierung von Kutkaité bewegt sich auf feministischer Diskurshöhe, verfällt nicht in Opferhaltung und Anklage, sondern lässt die vier zu Meisterinnen ihrer Lage werden – am Ende versprühen sie punkrappend Empowerment.

Beeindruckend ist auch ein Stück, in dem die Tänzerin Greta Grineviciuté auf der Bühne mit einer Waschmaschine kämpft und dabei ihrer Mutter nachspürt, die während ihrer Kindheit Suizid beging. Oder die Oper „Schöner neuer Körper“ von Zygimantas Kudirka: Gebetsartig deklamierend und arienhaft singt hier ein Chor von der Invasion des Körperkultes, dem Machbarkeitsglauben der Schönheits-OPs, die das Land überfallen haben.

Eine Auseinandersetzung mit von Social Media diktierten Frauen- und Körperbildern ist auch „Scylla will Mensch sein“ der Regisseurin Gabrielé Tuminaité – bei ihr gehen Theaterfilm und Bühne ständig ineinander über, agieren Frauen als groteske Dienerinnen eines alternden Regisseurs, bis ihn die weibliche Hauptfigur in Brille und Anzug von der Bühne entfernt. Auf litauischen Bühnen zumindest scheint kein Platz mehr zu sein für alte Bilder und Strukturen.

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