Theaterfestival im Netz: Die Stimme zurückerhalten
Das Kölner Sommerblut-Festival findet dieses Jahr online statt. Mit berührenden Begegnungen mit Seniorinnen und Recherchen über rechte Netzwerke.
Mit Zoom hatte Frau Sitzer, 83, noch nie zu tun. Der Betreuer hat es ihr installiert, und nun hält sie zu jeder Vorstellung von „Damengedeck 2.0“ aus ihrem Zimmer im Altersheim ihre selbstgemachten Puppen hoch: die Schwester Rita mit roten Zöpfen, vor drei Jahren gestorben. Der Sohn mit schwarzem Hut und Lederhose, die Eltern. Nur die Puppe ihres Exmanns, die hat sie verschenkt. In einem anderen Zoom-Fenster erzählt Frau Kleinen-Anders, 76, wie sie gegen den Willen ihres Mannes ihre erste Wildwasserkanu-Meisterschaft gewann und sich dann scheiden ließ.
In den geteilten Bildschirmen prosten wir uns zu mit Sekt, der vorher im Postpaket gekommen ist – dreidimensionaler Trost in zweidimensionalen Zeiten. In einer Altersresidenz ein Theaterstück zu inszenieren kann man dieser Tage als politischen Akt bezeichnen: interaktive Einblicke in ein abgeschottetes Universum, Zugänge zu Isolierten, die öffentlich ohnehin nahezu nicht mehr vorkommen.
Geplant war „Damengedeck 2.0“ des weiblichen Regieteams Behrmann/Koch/Mielich für das Kölner Sommerblut-Festival eigentlich als echter Rundgang durch die „Residenz am Dom“, in Kölns Stadtmitte gelegen, mit Schwimmbad und Cafés im Haus. Durch Corona hat der Abend noch an Brisanz gewonnen. Natürlich sind die Damen im Luxus-Altersheim privilegiert – und doch ist es ein berührendes Stück Dokumentartheater, ihre kleinen Zimmer zu sehen, sie heiter, trotzig und traurig aus ihren langen Leben erzählen zu hören, von kleinen und großen Kämpfen um Arbeit und Autonomie – und zu sehen, wie sie mit virtueller Hilfe in die Welt treten und ihre Stimme zurückerhalten.
„Seid autark“ ist ihr Apell
Im Programmheft, es kam auch im Paket, haben sie zusammengetragen, was sie jungen Frauen heute mitgeben würden: „Seid autark“, „bildet Gemeinschaften“, „seid zukunftsorientiert“. Zusammengehalten wird der Abend durch die Schauspielerinnen Amelie Barth und Emilia Haag, mit Woll- und Perlenkostüm verschleierte Wesen aus der Zukunft von 2370, die Geschichten von weiblicher Emanzipation sammeln und die Damen bestärken, wenn sie ins Stocken geraten.
„Damengedeck 2.0“ ist eins der Stücke, die das Kölner „Sommerblut-Festival“ trotz Corona hat stattfinden lassen, und obwohl das Zoom-Streaming sogar Eintritt kostete, war es stets „ausverkauft“. Das „Festival der Multipolarkultur“ widmet sich seit 2002 jährlich im Mai den Themen Diversität und Interkultur. In den letzten Jahren hat es sich internationalisiert und beginnt, auch mithilfe von EU-Geldern, selbst zu produzieren. Trotz Corona versucht es, vollumfänglich stattzufinden, mit Live-Hörspielen, Podcasts, Live-Streams.
www.sommerblut.de, Damengedeck 2.0 wieder 19. und 20. 5., die Homepage „Furcht und Normalität in Zeiten der AfD“ wird am 20. und 23. 5. live bespielt
Das Kölner nö-Theater etwa stellt am Mittwoch die interaktiv-theatrale Live-Homepage „Furcht und Normalität in Zeiten der AfD“ online: Das preisgekrönte Ensemble beschäftigt sich seit Jahren mit dem NSU-Verfassungsschutz-Komplex, ist aber auch immer wieder mit Gastspielabsagen konfrontiert, weil seine Arbeit angeblich das politische „Neutralitätsgebot“ verletzt. Sie thematisierten als erstes Theater überhaupt das Hannibal-Netzwerk. Mit finster-kabarettistischem Humor brachten sie da die erschreckende Absurdität der Vorgänge um Franco S. auf den Punkt.
Chronik der Bedrohungen
Geplant war ihre neue Premiere anders, aber Vorteile der Verlagerung auf die Webseite gibt es auch: Etwa, die aktuelle Corona-Krise der AfD behandeln zu können, die mit den schlechtesten Wahlumfragen seit drei Jahren kämpft und sich, neben dem Kalbitz-Rauswurf, nun auch mit den Verschwörungshonks auseinandersetzen muss: Parteilinie oder nicht? Bis zu welchem Grad kann man psychopathologische Verirrung noch sinnvoll für den Rechtsextremismus instrumentalisieren?
Aber es lesen auch Schauspieler aus Interviews, die sie mit Kulturschaffenden geführt haben: eine Chronik von konkreten Bedrohungen, Delegitimationen und Verbotsversuchen aus dem Arsenal des rechten Kulturkampfs. Ergänzt wird das mit Kurzfilmen, Verweise auf Youtube-Fundstücke rechter Kulturerzeugnisse: von der identitären Chansonnière bis zu Kochrezepten von Martin Sellner ist vieles dabei, allerdings verfremdet und mit anschließendem Expertengespräch eingeordnet – denn das Dilemma, Rechten durch ihre Thematisierung womöglich eine weitere Bühne zu geben, ist natürlich auch dem nö-Theater klar.
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