Theaterbuch „Gesellschaftsspiele“: Ein parteiischer Blick

Der Kurator und Dramaturg Florian Malzacher untersucht in „Gesellschaftsspiele'“ heutige Formen politischen Theaters. Ein lesenswertes Buch.

Frau im roten Kleid sitz auf einer Theater-Bühne. Ein Mann im Anzug steht neben ihr. Im Hintergrund sitzt ein Mann in weißem Hemd.

Ausschließlich mit Nichtweißen besetzt: Szene aus Reckes „Mittelreich“ Foto: Judith Buss

Dass die Coronakrise zu einer Neubesinnung der Theater führe, das ist ein derzeit oft gehörter Wunsch. Anstatt wie wild eine Premiere nach der anderen herauszujagen, wäre jetzt ja wirklich Zeit, sich zu fragen, ob das Theater nicht mehr sein könnte als ein Ort, um einen irgendwie netten Abend zu verleben. Stichwort „politisches Theater“. Die Form müsste dann allerdings der Moral folgen, oder wie es der Kurator, Autor und Dramaturg Florian Malzacher formuliert: „Zwischen Ethik und Ästhetik gibt es hier keine Trennung.“

In seinem lesenswerten Buch „Gesellschaftsspiele“ untersucht Malzacher heutige Formen politischen Theaters. Es ist eine unumwundene Liebeserklärung. Gleich zu Beginn gibt er zu: „Es ist ein parteiisches Buch.“ Doch, schränkt er ein, es sei auch ein suchendes über ein suchendes Theater.

In fünf Kapiteln, die sich schlaglichtartig mit den Themen Repräsentation, Identitätspolitik, Partizipation, Aktivismus und dem Theater als Versammlungsort beschäftigen, umkreist Malzacher die Frage nach dem, was politisches Thea­ter in seinem Kern ausmacht. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann wohl betrachtet werden, dass die Wirklichkeit sich dort als eine veränderbare präsentiert und das Publikum aufgefordert ist, sich, oft auch nur gedanklich, einzubringen.

Als ein Beispiel von vielen dient ihm Anta Helena Reckes sogenannte Schwarzkopie von „Mittelreich“. Die Regisseurin kopierte 2017 die bereits bestehende Inszenierung nach dem Roman von Josef Bierbichler und besetzte sie ausschließlich mit nichtweißen Schauspielern und Schauspielerinnen. Manchem mag erst beim Zusehen zu Bewusstsein gekommen sein, wie eindimensional der deutsche Theaterbetrieb sich ansonsten überwiegend darstellt.

Theater und demokratischer Alltag

Die Aufführung zeigt exemplarisch, wie das Theater gesellschaftliche Fehlentwicklungen spiegeln und Gegenwelten entwerfen kann. Das Theater sei aber auch ein antagonistischer Ort, wo laut Malzacher unterschiedliche Positionen ruhig aufeinanderknallen dürfen und gesellschaftliche Dilemmata sich offenherzig zeigten. Die Unversöhnlichkeit politischer Haltungen gehört zum demokratischen Alltag, und das Theater als Versammlungsstätte kann ein Ort sein, sie auszutragen.

Politisches Theater muss sich seiner Wirkungen und Nebenwirkungen bewusst sein

Doch das Theater ist eben nicht per se ein solcher Ort. „Ein Theater, das sich selbst als politisch begreift, muss ein Bewusstsein für seine Wirkungen – auch seine Nebenwirkungen – haben“, fordert Malzacher. Das heißt für ihn, es solle versuchen, niemanden auszuschließen, zu benachteiligen, zu beleidigen und das Leiden anderer nicht durch bestimmte Formen der Darstellung zu verniedlichen.

Demnach wäre das politische Theater auch ein utopischer Ort, ein Ort, an dem sich utopisches Denken konkretisiert. Das bezieht sich nicht nur auf die Arbeit auf der Bühne, sondern auch auf die Arbeit hinter den Kulissen.

So ist das Kollektiv als Organisationsform, wie es etwa die Performancegruppe She She Pop wählte, auch eine politische Entscheidung. Malzacher erwähnt die frühen Arbeiten der Truppe, die er als postmoderne Lehrstückaneignungen definiert. She She Pops jüngste, dezidierte Auseinandersetzung mit dem Brecht’schen Lehrstück, „Oratorium“ aus dem Jahr 2018, handelt das Buch leider nur als Fotografie ab.

Streifzug durch das politische Theater

Der Schweizer Theatermacher Milo Rau erhält dann zu Recht breiten Raum, gehört er doch zu jenen, welche die politische Wirkmacht des Theaters immer wieder an ihre Grenzen führen. Als Beispiel eignet er sich auch deswegen so gut, weil er selbst wiederholt in der Kritik stand, um des Effekts willen moralische Standards herunterzuschrauben. Ein Vorwurf, der ihn auch in Zusammenhang mit seiner Inszenierung „Orest in Mossul“ aus dem Jahr 2019 ereilte, die es ebenfalls verdient hätte, von Malzacher genauer unter die Lupe genommen zu werden.

Florian Malzacher: „Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute.“ Alexander Verlag Berlin, 164 Seiten, 15 Euro.

Er beschäftigt sich indes mit früheren Arbeiten von Rau, was dazu führt, dass sein neues Buch nicht so richtig up to date wirkt. Als kenntnisreicher Streifzug durch die Landschaft des politischen Theaters lohnt die Lektüre aber in jedem Fall. Aktuelle Konflikte um angebliche Sprechverbote und Einschnitte in die Kunstfreiheit erscheinen darin als womöglich notwendige Auseinandersetzungen auf dem Weg zu einem neuen Miteinander auf und hinter der Bühne.

Anhand vieler markanter Arbeiten verdeutlicht Mal­zacher Ansprüche, Wirkungsweisen und Auswüchse des politischen Theaters: von Christoph Schlingensiefs legendären Aktionen bis zu den heiklen Interventionen des Zentrums für Politische Schönheit.

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