Terrorbekämpfung im Sahel: „Wie Saigon 1974“
Wird die Sahelzone in Westafrika das Vietnam der europäischen Terrorbekämpfung? Europäische Beobachter schlagen Alarm.
„Der Druck der Islamisten auf Westafrikas Schutzgebiete ist enorm“, sagt Michel. „Besonders in den Nationalparks Arly und W in Burkina Faso. Die Dschihadisten haben die Parkzentrale in Arly zerstört. Sie kontrollieren das Gebiet total.“ Er bezieht sich auf einen grenzüberschreitenden Komplex mehrerer Nationalparks im Länderdreieck Burkina Faso, Niger und Benin. Vergangenes Jahr warf die Entführung von Touristen in Benin ein Schlaglicht auf die Rolle solcher Schutzgebiete in der Unsicherheit im Sahel.
Der Sahel, insistiert Michel, sei Afrikas Problemgebiet Nummer eins – bei der Sicherheit, der Umwelt, der ökonomischen Entwicklung und den Lebensbedingungen der Menschen. „Es gibt keine Ressourcen mehr. Es sind arme Länder, es gibt zu wenig Wasser und die Wüste breitet sich aus. Und nun kommt der Druck der Islamisten dazu.“
Zwar könne man die Sahelstaaten nicht mit Afghanistan gleichstellen, aber „es gibt zahlreiche Parallelen“, findet er: ein außer Kontrolle geratenes Bevölkerungswachstum, eine am Boden liegende Landwirtschaft, fehlende Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt für die Jugendlichen, korrupte und schwache Staatsapparate, unbeschränkte Zirkulation von Kleinwaffen, Aufkommen von saudisch inspirierten radikal-islamischen Strömungen, uneinnehmbare Rückzugsgebiete für dschihadistische Kämpfer.
„Direkt gegen die Wand“
„Diese Länder fahren direkt gegen die Wand“, sagt Baudouin Michel. „In Niger hat jedes Ehepaar durchschnittlich 7 oder 8 Kinder, es gibt zu wenig wirtschaftliche Aktivität, die Leute haben kein Land, kein Wasser, keine Schulbildung, keine Berufsbildung, und in diesem Kontext kommen die Islamisten an. Es ist ein allgemeiner Druck quer durch die Sahelzone, ein Terrorgürtel von Mauretanien bis Somalia, eine Ausbreitung von Unsicherheit parallel zu der Ausbreitung der Wüste und dem Klimawandel. In anderthalb Jahren sind die Islamisten 1.500 Kilometer nach Süden vorgedrungen, vom Norden Malis bis zur Grenze Benins.“
Niger, 9. Januar: Schwerbewaffnete Angreifer stürmen die Militärbasis Chinegodar nahe der Grenze zu Mali und töten 89 Soldaten.
Frankreich, 13. Januar: Bei einem Gipfeltreffen stockt Frankreich seine 4.500 Mann starke Sahel-Antiterrortruppe Barkhane auf.
Tschad, 19. Januar: Am späten Abend sprengt sich im Dorf Kaiga Kindjiria nahe der Grenze zu Nigeria eine Selbstmordattentäterin in die Luft. Zehn Menschen sterben.
Burkina Faso, 20. Januar: In Nagraogo überfallen Bewaffnete den Markt und töten 32 Menschen. Vier weitere vier sterben im Dorf Alamou.
Nigeria, 20. Januar: Vor laufender Kamera schlägt Boko Haram dem verschleppten Pfarrer Lawan Andimi, Präsident des christlichen Dach-verbandes der Provinz Adamawa, den Kopf ab.
Mali, 23. Januar: Die Armee bestätigt den Tod von sechs Soldaten bei einem Angriff auf Dioungani an der Grenze zu Burkina Faso.
Zwei Jahre, bevor im Mai 2019 französische Touristen im Pendjari-Nationalpark von Benin entführt wurden, hatte Michel eine Studie über diesen Park erstellt. Er gesteht, die Entwicklung damals nicht für möglich gehalten zu haben. Die Folgen sind jedenfalls dramatisch: Es kommen weniger Touristen, der Handel schrumpft, Regierungen nehmen weniger Geld ein, während sie eigentlich mehr brauchen.
Was könnte man dagegen tun? „Es gibt drei Dinge, die gemeinsam angegangen werden müssen“, findet Michel. „Geheimdienstliche Aufklärung, Sicherheit und Entwicklung. Aber Sicherheit gibt es nicht mit den Methoden der Armee in Burkina Faso. Sie führt einfach Razzien durch, wie es einst im Algerienkrieg der Fall war, in Vietnam, in Afghanistan.“ Er habe darüber mit hohen burkinischen Verantwortlichen gesprochen und gesagt: „Ihr führt einen asymmetrischen Krieg. Euer Feind fährt Motorrad, trägt Jeans, ihr könnt ihn nicht erkennen, seine Waffe könnt ihr nicht sehen. Die Dorfleute werden euch nichts verraten, denn wenn sie reden, werden sie abends umgebracht.“
Die Armeen der Sahelregion seien in ihrem jetzigen Zustand zur Terrorbekämpfung ungeeignet. „Bei den Razzien verhalten sie sich schlecht, sie vergewaltigen, sie plündern, sie bringen die Bevölkerung gegen sich auf.“ Nötig sei eine gute geheimdienstliche Aufklärung, „aber in diesen Bereich wollen sie in Burkina Faso nicht investieren. Niemand hat eine ganzheitliche Vision.“
Mit Krokodilen gegen Islamisten?
Baudouin Michel ist nicht der einzige Europäer in der Sahelzone, der die Dinge sehr pessimistisch sieht und an den Fähigkeiten der Regierungen zweifelt. Seine Sichtweise wird von anderen geteilt, die europäische Regierungen in diesen Fragen beraten. Einer erzählt, Benins Generalstabschef habe vorgeschlagen, gegen die Ausbreitung der Islamisten einen Staudamm zu bauen und dann den Pendjari-Fluss mit Krokodilen zu füllen, damit er unpassierbar wird.
Der Politologe Marc-Antoine Pérouse de Montclos hat soeben in Frankreich ein Buch mit dem eindeutigen Titel „Une guerre perdue: la France au Sahel“ veröffentlicht und analysiert darin, wie die Dschihadisten sich weiterentwickeln: Sie operieren nicht mehr einfach mit Gewalt und Einschüchterung, sondern sie fügen sich in die Verwaltung der Regionen ein, in denen sie militärisch stark sind, und übernehmen so die Kontrolle auf allen Ebenen.
Auf einer Konferenz in Nigers Hauptstadt Niamey über Konfliktprävention im Bereich natürlicher Ressourcen in Westafrika, organisiert mit Hilfe der EU und der deutschen GIZ, trug Pérouse de Montclos vor: „Für einen Viehhirten ist es billiger geworden, seine Herde in die Gebiete von Boko Haram in Nigeria oder der Katiba Macina in Mali zu schicken. Er bezahlt die Zakat (islamische Steuer) und bekommt eine Quittung.“
Die Islamisten würden die Menschen weniger ausplündern, als es die Behörden tun. Aus islamistischer Gewalt wird islamistische Verwaltung, auf der Grundlage lokaler Arrangements oder Stillhalteabkommen. Die Katiba Macina ernennt bereits Richter zur lokalen Konfliktschlichtung in Regionen, wo die staatliche Justiz Malis nicht präsent ist.
Aus islamistischer Gewalt wird islamistische Verwaltung
„Pérouse de Montclos hat völlig recht“, sagt Michel. „Er sagt, von den Dschihadisten sind nur 5 Prozent Überzeugungstäter. 20 bis 30 Prozent wollen sich rächen – für einen Diebstahl, eine Vergewaltigung. Der Rest sind Arbeitslose.“
Kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund auch das Misstrauen gegenüber den ausländischen Armeen in der Sahelzone, die allein auf militärische Schlagkraft setzen, steigt. Die Konferenz in Niamey endete mit einem mehrheitlich verabschiedeten Appell zum „sofortigen Abzug der ausländischen Truppen im Sahel“. Unter den Anwesenden waren hohe Staatsbeamte aus den Sahelstaaten und hohe Offiziere aus Mali und Algerien.
„Das ist hier wie Saigon 1974“, resümiert ein anderer europäischer Ausländer im Sahel – unter Verweis auf die einstige Hauptstadt Südvietnams kurz vor dem Fall und den darauf folgenden schmählichen Abzug der USA, der mit der Flucht aus der Botschaft in Saigon per Hubschrauber endete. „Die Führungen hier sind nicht vorbereitet und sie machen sich den Ernst der Lage nicht bewusst. Sie wollen nicht kämpfen. Wenn die ausländischen Truppen abziehen, halten Bamako, Niamey und Ouagadougou keinen Monat lang.“
Ein nigrischer Teilnehmer der Niamey-Konferenz, der die Truppenabzugsforderung ablehnte, warnt, an die Regierungen gerichtet: „Wenn ihr glaubt, dass die Dschihadisten euch davonkommen lassen – euch, die ihr mit dem Großen Satan zusammengearbeitet habt, wird man davonjagen oder hinrichten.“
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