Taiwan in Zeiten des Ukraine-Kriegs: Das blau-gelbe Vorbild
Taiwan denkt bei Russlands Krieg gegen die Ukraine an die Bedrohung durch China. Doch das Selbstvertrauen auf der kleinen Insel ist stark.
X inxin will Staatsbürgerin Taiwans werden. Das ist von vornherein kein einfaches Unterfangen, denn die Hürden für eine Einbürgerung sind in Taiwan hoch. Doch auch ihr eigenes Land, die Volksrepublik China, macht es Xinxin nicht leicht. Wenn es nach dessen Regierung ginge, gäbe es Taiwan überhaupt nicht. Xinxin kommt aus Taiyuan in der chinesischen Provinz Shanxi. Während des Jurastudiums in Peking lernte sie ihren taiwanischen Mann kennen. Seit zwei Jahren leben die beiden zusammen in Taiwans Hauptstadt Taipeh.
Ihr Entschluss wirkt auf mehrere Arten absurd. Denn Xinxin wird Staatsbürgerin eines Landes, das ihre Heimat als abtrünnige Provinz sieht und droht, es notfalls mit Gewalt einzunehmen. Die chinesische Staatsbürgerschaft müsste sie abgeben – für den Pass einer Nation, die von nur 14 Ländern der Welt als souveräner Staat anerkannt wird.
Doch ihr Entschluss steht fest: Sie will in Taiwan bleiben. Und sie möchte Freund*innen in den USA besuchen können – als chinesische Staatsbürgerin derzeit eine schwierige Angelegenheit. Der Pass Taiwans ist dagegen Gold wert, mit einfacher, teilweise visafreier Einreise in über hundert Länder der Welt, weit mehr als ihr die chinesische Staatsbürgerschaft ermöglicht.
Xinxins Entscheidung geht sicher gegen den Trend. In den letzten Jahren gibt es immer weniger zivilgesellschaftlichen Austausch zwischen China und Taiwan. Dazu ebenfalls beigetragen hat Chinas Abschottung während der Coronapandemie. Auch wachsende Spannungen auf Regierungsebene, die durch Peking angeordnete Niederschlagung der Proteste 2019 in Hongkong sowie innergesellschaftliche Umbrüche entfremden Taiwan immer weiter von China.
Mehrheit Taiwans definierte sich früher als chinesisch
Noch vor 15 Jahren definierte sich die Mehrheit der Bevölkerung als chinesisch oder sah sich als taiwanisch und chinesisch. Mittlerweile geben über 60 Prozent der Menschen des Inselstaats an, sie seien Taiwanerinnen und Taiwaner, nichts anderes.
Xinxin nimmt diesen vermeintlichen Konflikt eher gelassen. Diskriminierung habe sie in Taiwan noch nicht erlebt. Ob auch sie sich als Taiwanerin fühle? Nein, das brauche sicher noch einige Jahre, aber so wichtig sei die Frage für ihr Leben auch nicht. Ob sie Bedenken habe, nach ihrer Einbürgerung nach China zurückzukehren? Nein, jedenfalls nicht, wenn es nur darum geht, ihre Familie zu besuchen. Die meisten ihrer Freunde, Freundinnen und Bekannten zu Hause in China haben kein Problem damit, dass sie in Taiwan lebt. Ihren echten Namen will sie dann aber doch lieber nicht in der Zeitung gedruckt sehen.
Über einen möglichen Krieg zwischen Taiwan und China machen sich manche ihrer Bekannten in China Sorgen. In Taiwan selbst habe sie von dieser Angst aber nur sehr wenig gespürt, erzählt sie. Diese Wahrnehmung ist in Taiwan mehrheitsfähig. Laut Umfragen der Taiwanese Public Opinion Foundation, kurz nach dem Besuch der US-Politikerin Nancy Pelosi im Sommer 2022, rechnet die Mehrheit der Taiwaner und Taiwanerinnen nicht damit, dass China bald angreifen würde. Immerhin 39 Prozent halten einen Krieg in absehbarer Zukunft für möglich. Über die chinesischen Militärübungen in der Taiwanstraße, ein unmittelbares Anzeichen von Aggression, zeigen sich weniger als ein Fünftel der Menschen besorgt.
Vor allem in den USA kursiert in den letzten Monaten immer wieder 2027 als möglicher Zeitpunkt für eine chinesische Übernahme Taiwans. Sichere Belege dafür gibt es nicht. Eine Analyse des US-Thinktanks Carnegie Endowment zeichnete vor Kurzem nach, welche Anzeichen darauf hindeuten würden, dass China eine Invasion akut vorbereite. Die Volksrepublik müsste ihre Waffenproduktion massiv steigern, sich gegen erwartbare Sanktionen absichern und strategische Reserven an medizinischen Gütern und Nahrungsmitteln anlegen. Von all diesen Maßnahmen ist auf Chinas Seite bisher nichts zu erkennen. Doch die Frequenz und Intensität chinesischer Militärübungen in der Taiwanstraße nimmt immer weiter zu.
Der Immobilienmarkt ist ein Indikator
Wer verstehen wolle, wie hoch das Vertrauen der taiwanischen Gesellschaft in die eigene Zukunft sei, finde im Immobilienmarkt einige nützliche Anhaltspunkte, sagt Lin Tzu-Chin. Er ist Professor für Ökonomie an der National Chengchi Universität, aus dem Fenster seines Büros im 16. Stock blickt er hinab auf die Hauptstadt Taipeh.
Die große Mehrheit der Menschen in Taiwan lebt im eigenen Wohneigentum. Für die meisten Menschen ist das Eigenheim über alle gesellschaftlichen Veränderungen und Gräben hinweg die einzig sichere Wohnform und Wertanlage.
Lin Tzu-Chin, Professor für Ökonomie
Lin Tzu-Chin blickt zurück: Die Kuomintang, die China vor dem Zweiten Weltkrieg regierte, verlor nach Ende des Zweiten Weltkriegs den Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten. Während diese auf dem Festland die Volksrepublik China errichteten, behielt die Kuomintang in Taiwan die Macht und leitete dort ab Ende der 1980er Jahre eine schrittweise Demokratisierung ein. Zum Anfang des neuen Jahrtausends wurde erstmals die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) – die Partei der derzeitigen Präsidentin Tsai Ing-wen – Regierungspartei. Ihr Verhältnis zu China ist kritischer, die Stärkung der Autonomie Taiwans als souveräner Staat ein wichtiger Punkt ihrer Politik.
Seitdem wechselte die Führung Taiwans zwei weitere Male zwischen Kuomintang und DPP – damit ging auch die Beziehung zu China durch Höhen und Tiefen. Doch der Wohnungsmarkt blieb stabil. In den letzten 15 Jahren verdoppelten sich die Wohnungspreise landesweit. Für Lin Tzu-Chin grundsätzlich ein gutes Zeichen: „Wir müssten uns erst dann wirklich Sorgen um Taiwans Zukunft machen, wenn niemand mehr eine Wohnung kaufen möchte.“
Alex Khomenko aus Charkiw protestiert in Taipeh
Alex Khomenko weiß dagegen nur allzu gut, wie es sich anfühlt, wenn sich Hoffnung auf einmal in Nichts auflöst. Der Softwareentwickler stammt ursprünglich aus der ukrainischen Stadt Charkiw. Seine Frau hat taiwanische Wurzeln. Die beiden wollten, dass ihre zwei kleinen Töchter mit Chinesisch als Sprache aufwachsen und zogen 2021 von den USA nach Taiwan.
Als russische Panzer am frühen Morgen des 24. Februar 2022 die Grenze zur Ukraine überquerten, saß Khomenko im Chinesischunterricht und scrollte fassungslos durch Twitter. Knapp zwei Stunden später stand er vor der russischen Wirtschaftsvertretung, mit einer ukrainischen Flagge und einem Schild: Russia out of Ukraine.
In den ersten Monaten des Krieges protestierte er dort jeden Tag, mittlerweile immerhin noch zweimal pro Woche. Er blieb nicht lange allein. Zwei Wochen nach Beginn des Krieges demonstrierten 1.500 Menschen in Taipeh gegen den russischen Angriffskrieg. Ein Solidaritätsbündnis für die Ukraine organisiert regelmäßig Veranstaltungen in Taipeh. Nicht ganz ein Jahr später steht er weiter vor dem Gebäude der Wirtschaftsvertretung. Von Zeit zu Zeit laufen dessen Mitarbeitende vorbei und blicken dabei verstohlen Richtung Mahnwache. Alex Khomenko ruft ihnen nach: „Slawa Ukrajini“ – Ruhm der Ukraine.
Wer will, kann gegen eine Spende Atemschutzmasken in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb mitnehmen. Ein Uber-Fahrer bringt den Demonstrierenden gratis Kaffee. Er sehe die Mahnwache jede Woche während seiner Arbeit, sagt er, und wolle so Solidarität zeigen. Alex Khomenko sagt: „Die Aufmerksamkeit hat in den letzten Monaten etwas nachgelassen. Und natürlich ist die Ukraine für viele Menschen in Taiwan weit entfernt. Doch wir erleben noch immer viel Unterstützung. Und die taiwanische Regierung steht seit dem ersten Tag hinter uns.“
Taiwan bereitet sich auf Ernstfall vor
Hat der Krieg die Haltung der taiwanischen Bevölkerung zu China verändert? Zumindest scheinen viele nun zu merken, dass die Demokratien der Welt wachsamer sein und zusammenstehen müssen. Tschechien und Litauen knüpften in letzter Zeit engere Verbindungen zu Taiwan. Die Ukraine prüft, ein Vertretungsbüro in Taiwan zu eröffnen – auch auf Initiative von Alex Khomenko.
Taiwan beginnt nun, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. Ende Dezember verkündete Präsidentin Tsai Ing-wen, ab Anfang 2024 die Pflichtwehrdienstzeit von vier Monaten auf ein Jahr zu verlängern. Zivilgesellschaftliche Initiativen sensibilisieren für die Kriegsgefahr und bieten Trainingseinheiten für Freiwillige an. Für Khomenko sind das ermutigende Entwicklungen.
Lin Tzu-Chin ringt um die richtigen Worte, wenn er über die aktuelle Lage Taiwans spricht. „Natürlich wissen wir um die Gefahr, die von der chinesischen Regierung ausgeht. Damit leben wir schon über Jahrzehnte. Doch wir können nicht die ganze Zeit damit verbringen, über diese Bedrohung nachzudenken.“
Die wirtschaftliche Elite Taiwans habe ohnehin meist eine doppelte Staatsbürgerschaft. Deren Kinder studieren fast alle im Ausland. Sie können Taiwan ohne große Probleme verlassen oder haben es bereits – auch das gehört für Lin Tzu-Chin zur Realität dazu. „Wer in Taiwan bleibt, hat keine andere Wahl, als hier sein Glück zu suchen. Wir sind zum Optimismus verdammt.“
Auch Xinxin bleibt optimistisch. Sie wünscht sich für ihre Zukunft vor allem Frieden zwischen China und Taiwan, ein gutes Leben mit ihrer Familie und die Chance, die Welt noch weiter zu entdecken. Ein neuer, besserer Pass könnte ihr dabei sicher helfen. Doch noch sind sie und ihr Mann auf Wohnungssuche.
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