Tagebuch aus Russland: Lernen darf nur, wer schon genug weiß
Russisch-Kenntnisse und legaler Status erforderlich: Wie die Regierung in Moskau Kinder aus migrantischen Familien ausgrenzt.
A smira arbeitet als Verkäuferin in einem kleinen Lebensmittelgeschäft in einem Vorort von St. Petersburg. Sie und ihr kleiner Sohn kamen vor sechs Monaten aus Usbekistan hierher, um bei ihrem Bruder zu leben, der den Laden eröffnet hat. Jetzt hilft sie ihm manchmal beim Verkauf. Die Kunden kommen, um Bier und Zigaretten zu kaufen. Manchmal gehe ich auch dahin. Asmira nimmt das Geld an und tauscht mit ihnen einfache gebrochenen Russisch aus, aber selbst das fällt ihr schwer.
Derzeit leben in St. Petersburg etwa 210 000 Migrant:innen, die meist aus den zentralasiatischen Ländern und dem Südkaukasus kommen. 20.000 von ihnen sind Kinder. Nach Angaben der russischen Behörden ist die Zahl der Migrant:innen in den letzten Jahren aufgrund strengerer Vorschriften und Kontrollen um fast 60 Prozent zurückgegangen. In diesem Jahr wurde ein neues Gesetz eingeführt: Bei der Einschulung müssen sich die Kinder sowohl legal in Russland aufhalten als auch Russisch sprechen. Die Behörden haben spezielle Sprachtests für junge Ausländer:innen entwickelt. Wenn ein Kind den Test erfolgreich besteht, wird es in die Schule aufgenommen, und wenn nicht, kann der Test in drei Monaten wiederholt werden.
Asmiras Sohn ist bereits 8 Jahre alt, aber sie ist sicher, dass er in diesem Jahr nicht eingeschult wird, weil er kaum Russisch spricht. Es ist sehr teuer, einen Nachhilfelehrer zu engagieren, und Sprachkurse für Kinder von Ausländer:innen sind eine Autostunde von zu Hause entfernt. Und auch da wird eine Gebühr verlangt. In ganz St. Petersburg gibt es nur eine einzige gemeinnützige Organisation, die sich um die Anpassung und Integration von Kindern kümmert, aber sie kann nicht alle aufnehmen.
Nicht-russischsprachige Kinder gemeinsam mit russischsprachigen Kindern zu unterrichten, ist eine Herausforderung für Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern gleichermaßen. Sie begrüßten das neue Gesetz mit einem erleichterten Seufzer.
Nachhilfe für ihre Kinder können nur wenige bezahlen
„Meine letzte Klasse bestand zu 80 Prozent aus ausländischen Kindern“, sagt Alexandra, eine Grundschullehrerin. Die Hälfte ihrer Schüler:innen sprach überhaupt kein Russisch, und zwei von ihnen waren 14 Jahre alt und gingen in die erste Klasse, obwohl sie eigentlich in die siebte Klasse gehören würden. Weil sie die Sprache nicht beherrschten, konnten sie dort einfach nicht aufgenommen werden.
Trotz der Schwierigkeiten erinnert sich Alexandra mit Wärme an ihre Kinder. Sie sagt, dass ausländische Kinder viel fleißiger und disziplinierter sind. Im vergangenen Jahr hat Alexandra eine neue Klasse übernommen, in der es nur ein paar Kinder mit Migrationshintergrund gibt. Zwei von ihnen beherrschen immerhin einfache Sätze auf Russisch. Im ersten Schuljahr lernten sie sprechen, lesen und zählen. Das war vor allem der Tatsache zu verdanken, dass die Lehrerin die Eltern anrief und auf zusätzlichem Unterricht bestand. Sie hatte Glück, dass die sich darauf einließen.
Gleichzeitig kann ein Verbot des Unterrichts für Kinder, die kein Russisch sprechen, nach Ansicht vieler Experten zu einer Ausgrenzung führen. Denn der Schulbesuch ist für sie fast die einzige Möglichkeit der Integration. Zudem sind nicht alle Eltern bereit, auf eigene Kosten Russisch zu lernen. In Russland wird nicht jedem Kind das Recht auf kostenlose Schulbildung garantiert. Nicht mehr, früher war das anders.
Ekaterina Kabanowa lebt als Journalistin in Russland.
Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.
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