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Tagebuch aus LettlandWer will eigentlich, dass meine Mutter nicht zu mir darf?

Täglich kommen Menschen von Belarus aus nach Lettland oder Polen. Doch die Einreise in die EU wird immer schwieriger – ein Fehler.

Ein Pfeiler markiert die Grenze der Republik Lettland Foto: Welscher/dpa

I ch schreibe diesen Text, während meine Mutter die belarussisch-lettische Grenze überquert. Ich selbst bin aus Belarus geflohen und lebe nun in Lettland. Meine Mutter besucht mich manchmal, aber in jüngster Zeit wird das immer schwieriger. Wird sie die Grenze passieren können? Wird sie künftig weiterhin kommen dürfen, und wenn ja, auf welchem Weg? Ich habe keine Antworten auf diese Fragen, aber ich hätte sie sehr gerne.

Ende September hat Polen vorübergehend die Grenze zu Belarus geschlossen, kürzlich hat auch Litauen seine Grenze geschlossen. Beide Länder begründen ihre Maßnahmen mit der Sorge um die nationale Sicherheit, aber tatsächlich handelt es sich um gewöhnlichen Populismus, unter dem Familien leiden, die sich auf verschiedenen Seiten der Grenze befinden. Es gibt Hunderttausende solcher Familien.

Es leiden auch diejenigen, die in Belarus leben und in der EU arbeiten. Es leidet die gesamte Grenzregion, die traditionell vom Handel lebt. Und, nein, es geht hier nicht um Lukaschenkos Geldbörsen und nicht um große Unternehmen, gegen die Sanktionen verhängt wurden. Es geht um ganz normale Menschen, von denen viele 2020 nicht für Lukaschenko gestimmt haben, die zu Protestdemonstrationen gegangen sind und die Repressionsopfer unterstützt haben.

Die Menschen wollen reisen. Je weniger sie dies in den Ländern der EU können, desto häufiger reisen sie nach Russland.

Unter diesen Menschen sind auch ehemalige politische Gefangene. Für diejenigen, die nach ihrer Haft in Belarus geblieben sind, ist es jetzt noch schwieriger geworden, im Falle erneuter Repressionen aus dem Land zu fliehen. Und diejenigen, die bereits ausgereist sind, haben es immer schwerer, ihre Angehörigen zu sehen.

Annäherung an Russland, Abwendung von der EU

Sowohl westliche Po­li­ti­ke­r:in­nen als auch die belarussische Opposition sprechen oft davon, wie wichtig es sei, die Be­la­rus­s:in­nen mental von Russland zu distanzieren und näher an die Europäische Union heranzuführen. Die demokratischen Kräfte in Belarus sagen, dass sie zu diesem Zweck ihre westlichen Partner um Unterstützung für unabhängige Medien und Blogger bitten. Aber keine Jour­na­lis­t:in­nen und keine Blog­ge­r:in­nen werden die Menschen in Belarus davon überzeugen können, der EU positiv gegenüberzustehen, wenn sich genau diese EU mit einem Zaun abschottet und ihre Grenzen schließt.

Und wenn jemand glaubt, dass die Be­la­rus­s:in­nen grundsätzlich jegliche Zusammenarbeit mit Russland ablehnen werden, auch wenn ihnen westliche Alternativen genommen werden, dann habe ich schlechte Nachrichten für diese Person: Die Menschen wollen reisen, sie wollen ihre Kinder ans Meer mitnehmen, sie wollen neue Städte erleben. Und je weniger Möglichkeiten sie haben, dies in den Ländern der EU zu tun, desto häufiger werden sie nach Russland reisen, und desto normaler wird ihnen die russische Gesellschaft erscheinen. Sie werden russische Sol­da­t:in­nen sehen, russische Propaganda erleben und letztlich Geld nach Russland bringen – wodurch sie dessen Haushalt auffüllen und den Krieg finanzieren.

Der litauische Politologe Vytis Jurkonis behauptet, dass Menschen, die in Belarus leben und in der EU Geld verdienen wollen, nicht als Opfer der Grenzschließung betrachtet werden sollten. Seine Botschaft ist klar: Es gibt Menschen, die es verdienen, Geld zu haben, Freude zu haben und ganz normal zu reisen, und es gibt Belaruss:innen, die sich dieses Recht erst erarbeiten müssen. Natürlich hat dieser Politologe das Recht auf seine Meinung, aber wenn eine solche Haltung Teil der staatlichen Politik wird und die EU weiterhin erwartet, dass die Be­la­rus­s:in­nen sich an „europäische Werte“ anlehnen, dann habe ich auch für Jurkonis schlechte Nachrichten: Vielleicht leiden wir als Nation unter dem Stockholm-Syndrom, aber es ist sicherlich nicht so stark, dass wir uns zu denen hingezogen fühlen, die uns spüren lassen, dass wir für sie Menschen zweiter Klasse sind.

Das dürfte kaum das sein, was sich europäische Po­li­ti­ke­r:in­nen erhoffen, wenn sie stets aufs Neue Beschränkungen für Be­la­rus­s:in­nen verkünden. In Wirklichkeit treiben sie uns damit nur näher an Russland heran. Noch näher an Russland.

Nasta Zakharevich ist belarussische Journalistin und lebt im Exil in Lettland. Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.

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