TV-Serie „The Good Fight“: Das Erdenken der Utopie
Die TV-Serie „The Good Fight“ spielt im Anwältinnenmilieu. Was sie so wichtig macht, ist ihr Ausbrechen aus der Realität, hin zum Undenkbaren.
G erade läuft die fünfte Saison einer US-amerikanischen Fernsehserie namens „The Good Fight“. Vier Staffeln lang prallten nach bewährtem Muster mehr oder weniger interessante soziale Konflikte auf juristische Grauzonen, verhandelt von einem diversen Rechtsanwältinnenteam. Die Serie war oft spannend und gelegentlich informativ. Dann kam die Pandemie, die vierte Staffel brach abrupt ab und in einem „Making of“-Beitrag wurde erläutert, wie schwer es ist, unter den aktuellen Bedingungen eine Serie zu produzieren.
Nun geht es weiter, aber nicht wie gehabt. Denn unvermittelt und überraschend taucht mitten in Chicago etwas auf, das bislang nicht einmal in den Träumen der Figuren existierte: die Utopie.
Die staatlichen Gerichte arbeiten zwar wie gewohnt weiter, aber sie haben Konkurrenz erhalten. Im Gerichtssaal 9 ¾ (Harry Potter lässt grüßen) verhandelt ein verschmitzter Philosoph des Alternativen im Lagerraum eines Copyshops Zivilrechtsfälle, weil es um das Recht im Lande wieder einmal schlecht bestellt ist.
Dieser selbsternannte Richter verfügt allein über die Autorität seiner Weisheit. Die streitenden Parteien einigen sich im Voraus darauf, sein Urteil zu akzeptieren, und er stellt im Verfahren alles infrage, nicht nur die Aussagen der Beteiligten, sondern auch die etablierten, festgeschriebenen Regeln und Abläufe. Das ist lustig (um Vorurteile zu neutralisieren, müssen die Zeugen in Vollkörperkostümen auftreten), politisch erhellend (die Entlarvung mancher prozessualer Regeln als antiquiert-hierarchisches Ritual) und zugleich zutiefst bewegend (im doppelten Sinne des Wortes).
Empathie nicht als hohle Phrase
Denn mit einem fantasievollen Strich durch die Faktizität der herrschenden Verhältnisse wird die Fantasie befreit. Die Black Box des Denkens wird gesprengt und auf einmal finden wir uns auf einem endlosen Spielfeld der Möglichkeiten wieder. Und wenn der Richter nach seinem Urteilsspruch die Streithähne auffordert, sich die Hand zu geben und zu sagen „Ich respektiere und liebe Sie“, nicht beiläufig, nicht als hohle Phrase, sondern mit ehrlicher Empathie, werden viele Zusehende ob der vermeintlichen Sentimentalität die Augen verdrehen.
ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher. Im August 2020 erschien sein neuer Roman „Doppelte Spur“ bei S. Fischer.
Das wäre unangebracht. Nicht nur, weil Versöhnung und Heilung (individuell wie auch gesellschaftlich) tatsächlich das Ziel einer Konfliktlösung sein sollten. In manchen vorkolonialen afrikanischen Gesellschaften wurde bei Vergehen nicht mit Strafe reagiert, sondern mit Zuneigung, aus der Überzeugung heraus, der Mensch, der seinen Mitmenschen Schaden oder Leid zufüge, sei nicht genug geliebt worden, habe nicht genug Zuspruch erhalten. Aber auch, weil der konditionierte Mensch zum eigenen Schaden dazu neigt, das Ungewohnte vorschnell als verrückt oder lächerlich abzutun und deswegen ein Leben lang in seiner gewohnten Absurdität schmort.
Einige wenige Szenen einer durch und durch kommerziellen Serie reichen erstaunlicherweise aus, um sich an den kurzen Frühling der Utopie im letzten Jahr zu erinnern, als viele von uns, angeregt von einem veränderten Alltag, sich grundsätzlichere Gedanken über unser Leben, Wirken und Verbrauchen machten, Gedanken, die teilweise ins Utopische wucherten.
Das sollten wir uns unbedingt erhalten, denn das Erdenken alternativer Zustände verbessert die Realität ungemein. Vielleicht ist Fantasie sogar die beste problemlösende Kulturtechnik, die uns Menschen zur Verfügung steht. Das scheinen wir vergessen zu haben. An Fantasie herrscht gegenwärtig Mangel.
Das Imaginieren der Zukunft
Das Was-ist dominiert über das Was-wäre. Fantasie wird kaum gefördert, nicht in den Schulen, noch weniger an den Universitäten und im beruflichen Alltag gar nicht. Wie der indische Aktivist Manish Jain einmal sagte: „Es ist eines der Ziele moderner Ausbildung, die Fantasie der jungen Menschen zu zerstören.“
Wir beschäftigen uns ausgiebig mit Erinnerungskultur und vernachlässigen das Imaginieren der Zukunft. Unsere Fähigkeit, etwas anderes zu sehen als nur das Bestehende, geht so dramatisch ein wie die Zahl der Apfelsorten. Die kapitalistische Kommodifizierung führt zu Uniformität, nicht nur in unseren Fußgängerzonen, sondern auch in unseren Köpfen. Ein Teufelskreislauf, denn je weniger Vielfalt wir um uns herum erfahren, desto weniger können wir Visionäres erträumen. Was für eine schreckliche Vorstellung, ein Leben lang ins Hier und Jetzt verbannt zu sein.
Das Utopische (oder Ausgefallene oder Abseitige oder Umgedrehte) benötigt zudem öffentliche Wirkungsräume. Fantasie ist ein individueller Akt, der nach Kommunikation strebt (wer wüsste das besser als ein Romancier?). Wo sind sie, die Räume, in denen wir uns mit anderen Tagträumern und Möglichkeitsdenkenden (also jene, die das, was ist, nicht wichtiger nehmen als das, was nicht ist – so Robert Musil) austauschen können? Wo die entsprechenden Radiosendungen, Zeitungsserien oder Webseiten? Stattdessen überall eine deprimierende Hörigkeit gegenüber dem Tatsächlichen.
Was dazu führt, dass mangels Möglichkeitssinn auch unser Wirklichkeitssinn verkümmert. Wir rezipieren grausige Erzählungen, die von Gewalt und Erniedrigung handeln, ohne uns zu fragen, wie repräsentativ sie sind. Positives hingegen tun wir als weltfremd ab. Wie Richard Curtis, Großmeister der Großen Gefühle auf Großer Leinwand, es einmal auf den Punkt brachte: „Wenn man einen Film über einen Soldaten macht, der desertiert und eine schwangere Krankenschwester ermordet – etwas, was wahrscheinlich nur einmal in der Geschichte passiert ist –, nennt man das eine schonungslos realistische Analyse der Gesellschaft. Wenn ich einen Film mache, in dem es um Menschen geht, die sich verlieben, dann nennt man das eine sentimentale Darstellung einer unrealistischen Welt.“ Womit wir wieder bei „The Good Fight“ wären, einem hervorragenden Beispiel für utopischen Realismus.
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