TV-Dokumentation über Musliminnen: Kult der Jungfräulichkeit als Wahn
Die Dokumentation „Der Jungfrauenwahn“ will zeigen, warum es Musliminnen schwerfällt, frei zu sein. Doch die Subjektivität steht dem Film im Weg.
„Warum fällt es Muslimen schwer, frei zu sein?“ Das ist die Leitfrage der Dokumentation „Der Jungfrauenwahn“ von Güner Balcı. Dabei geht es ihr vor allem um die weibliche Perspektive und den Kult um Jungfräulichkeit. Der Film porträtiert Frauen wie Arife Yalniz, die mit 16 ihr Elternhaus verließ, weil sie dessen Moralvorstellungen nicht ertrug.
Balcı erzählt auch ihre eigene Geschichte: In den sechziger Jahren kamen ihre Eltern nach Deutschland mit traditionellen Vorstellungen in eine freie Gesellschaft, wie sie sagt. Hier liegt bereits die problematische Prämisse des eigentlich wichtigen Films: Muslimische Familien sind repressiv, die Mehrheitsgesellschaft ist frei.
Balcı zeigt Familienvideos und kommentiert: „Meine Mutter beim Kochen“. Doch wo waren die weißen deutschen Frauen? Sie standen auch am Herd, durften nur mit Erlaubnis des Ehemanns lohnarbeiten. Vergewaltigung in der Ehe wurde erst viel später strafbar.
Was die Stärke des Films sein könnte, gerät zum Problem: seine Subjektivität. Balcı verzichtet auf Zahlen, verlässt sich auf Beobachtungen. Da sind zum Beispiel die verschleierten Frauen, die ihrem Eindruck nach immer zahlreicher Freibäder besuchen. Doch heißt das, deutsche Muslime werden konservativer, wie sie suggeriert? Oder könnte es auch bedeuten, dass mehr verschleierte Frauen ihr Heim verlassen?
Güner Balcı: "Der Jungfrauenwahn", ZDF, 23.45 Uhr
Balcı idealisiert die Mehrheitsgesellschaft, was fahrlässig ist angesichts brennender Asylheime und Pegida. Die können ihre Weltsicht bestätigt fühlen: Steinzeitmuslime versus freies Deutschland.
Gleichzeitig erweist Balcı jenen 25 Prozent der Frauen aus der Mehrheitsgesellschaft einen Bärendienst, die in Partnerschaften Gewalt erleben. Dass sich Frauen verschiedener Kulturen für gemeinsame Kämpfe gegen Sexismus zusammentun, bleibt so schwer vorstellbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Scholz zu Besuch bei Ford
Gas geben für den Wahlkampf