Szenische Lesung übers Leben unter Putin: Krieg herrscht auch in Russland
Was machen die „Spezialoperationen“ mit den Menschen in Moskau? Dem spürt die szenische Lesung „Um acht ist es hier schon hell“ in Hamburg nach.

In der Ukraine ist jeden Tag Krieg, seit dem Einmarsch russischer Truppen im Februar 2022. Aber nein! Der Krieg begann bereits im März 2014 mit der Besetzung der Krim. Und im April 2014 dann im Donezbecken, dem Donbass, ganz im Osten. Die Ukraine ist riesig – und wir hier in Deutschland hofften 2013/14 auf die Orangene Revolution, auf ein unabhängiges, demokratisches Land.
„Um acht ist es hier schon hell“ richtet den Scheinwerfer auf Menschen in Moskau und ihre Sicht auf den Krieg in der Ukraine. Im Zentrum des Abends steht Anna (Ute Hannig), eine Getriebene. „Während wir schliefen, bombardierten wir Charkiw“: Dieser Vers der russischen Dichterin Maria Stepanova treibt sie an, sie spuckt ihn immer wieder vor uns aus.
Anna ist zerrissen: Sie ist Ehefrau und Mutter, Freundin und geschäftstüchtige Reisebüro-Angestellte. Ihre drei Handys, unterschiedliche Klingeltöne, liegen bereit für jede dieser Rollen: Als Ehefrau hofft sie, ihr Mann werde besonnen bleiben, ihrer Tochter kauft sie Eyelashes, obwohl sie die scheußlich findet. Als Freundin testet sie, wie offen sie noch reden kann. Und den Kunden redet sie die Wunsch-Reiseziele schön.
Anna weiß natürlich vom Krieg, auch wenn er in Russland „Spezialoperation“ genannt werden muss. Die Propaganda duldet keine Widerworte. Doch die Gedanken sind frei: „Während wir schliefen, bombardierten wir Charkiw. / Das Morgenrot so rot. / Und Charkiw ging in schwarzem Rauch auf.“
„Um acht ist es hier schon hell“.
Nächster Termin: Sa, 5. 4., 19.30 Uhr, Hamburg, Deutsches Schauspielhaus/Malersaal
Anna weiß, was parallel zu ihrem Alltag in der benachbarten Ukraine geschieht. Immer aufs neue drängen sich die Lügen des Putin-Regimes in ihren Kopf, überlagern ihre Selbstbefragung nach eigener Schuld und Verantwortung, nach Patriotismus und Menschlichkeit in einem Staat, der seine Bürger belügt und seine Soldaten verheizt.
Vergeblich versucht Anna, den eigenen Opportunismus zu verdrängen. Auch das Verdrängen gelingt nicht. Einfach überhaupt nicht mehr zu denken, wünscht sie sich. In ihrem Schädel herrscht Unordnung. Sie trinkt ziemlich viel.
Ute Hannig spielt diese Anna kraftvoll und verletzlich zugleich. Genauer gesagt: Sie spricht Anna – denn „Um acht ist es hier schon hell“ wird als szenische Lesung dargeboten. Das ist nur konsequent, denn das Wirrwarr in Annas Kopf lässt sich nicht durch Handeln beruhigen. Klingelt ein Handy, hören wir, wie sich ihre Stimme anpasst, je nachdem, wer anruft.
Hannigs Anna wirkt nur vermeintlich stark. Sie erzählt von einem Widerstandsakt: Im eisigen Moskauer Winter hat sie das Autofenster heruntergekurbelt und vorbeifahrenden Militärfahrzeugen den Stinkefinger gezeigt. Dabei erfror ihr fast der Finger, sie musste ihn wieder auftauen. Dieser Protest könnte zum Lachen sein, wenn er nicht so vergeblich wäre.
Nein, die russischen Verhältnisse lassen sich nicht zum Tanzen bringen. Zu opponieren, das kann tödlich sein: Boris Nemzow wurde 2015 im Zentrum Moskaus erschossen, Alexej Navalny starb 2024 im Straflager. Auch in Russland ist jeden Tag Krieg.
Von der Schauspielschule in Charkiw
Wenn Anna erzählt, in ihre Handys spricht oder sich Mut antrinkt, ist sie nicht allein: Drei Frauen lesen im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses den Text des Autoren- und Regieduos Julia Solovieva und Evgeni Mestetschkin. Hannig hat die ukrainischen Darstellerinnen Dana Anofrenkova und Alina Nevmerzhitskaya an ihrer Seite. Sie sind in Charkiw auf die Schauspielschule gegangen, vor dem Krieg. Jetzt leben sie in Hamburg.
Anofrenkova und Nevmerzhitskaya helfen Anna auf die Sprünge, wenn ihr Gedächtnis sie im Stich lässt – eine bezeichnender Vorgang in totalitären Verhältnissen. Im Voiceover setzen die beiden jungen Frauen ihre Perspektiven gegen Annas Lavieren, schütteln deren Aussagen ab. Sie wollen wieder eine Zukunft haben, frei nach Bert Brecht: Wer möchte nicht in Frieden und Eintracht leben? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.
Totale Herrschaft wird dann wahrhaft total, wenn sie das private Leben der Beherrschten in das eiserne Band des Terrors spannt. Diese Definition nach Hannah Arendt scheint den unbedingt sehenswerten Abend zu grundieren.
„Um acht ist es hier schon hell“ beleuchtet die Moskauer Normalität im dritten Kriegsjahr. Die Russin Solovieva, in Kursk geboren, und der aus dem ukrainischen Lwiw stammende Mestetschkin urteilen dabei nicht. Wer vermöchte denn ernsthaft zu sagen, ob er selbst widerständig wäre im heutigen Moskau?
Annas Mann Sewa hat wegen einer Widersetzlichkeit zehn Jahre im Straflager abgesessen. Seither lebt der Raumfahrt-Experte verkrochen von Mathematik-Nachhilfe und träumt von Teleportation, vom Wegbeamen in eine andere Realität. Anna hingegen ficht weiter ihren inneren Kampf aus. Sie will sich und ihre Familie nicht gefährden, will aber auch vor sich selbst bestehen können.
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