Syriza vor der Wahl in Griechenland: Gemacht, was machbar war
Ohne Illusionen, aber auch ohne zu resignieren, führt die Linkspartei Syriza ihren Straßenwahlkampf. Eine Wahlniederlage steht an.
Vor vier Jahren prangte hier noch das Logo von Griechenlands Regierungspartei: „Das Schild ist immer wieder gestohlen worden“, sagt Dimitris Routos zur Begrüßung, „irgendwann haben wir aufgehört, ein neues aufzuhängen.“ Routos ist stellvertretende Sekretär von Syriza in Thessaloniki.
Vor vier Jahren war hier etliches anders. Im Januar 2015 der sensationelle Syriza-Wahlsieg, im Juli das beeindruckende „Oxi“-Referendum der GriechInnen gegen das europäische Austeritätsdiktat. Kurz darauf die Kapitulation des Ministerpräsidenten Alexis Tsipras vor den EU-Institutionen und schließlich der überraschende erneute Wahlerfolg Syrizas im September, die zweite Chance. Es war die Zeit der großen Hoffnungen und tiefen Enttäuschungen.
„Wir müssen einfach weiter um die Chance kämpfen, das Land zu verändern“, sagte seinerzeit Routos bei unserer ersten Begegnung; das war vor der zweiten Wahl, 2015. Die erzwungene Unterwerfung von Tsipras hatte zu schweren Verwerfungen innerhalb Syrizas geführt. Etliche AktivistInnen hatten sich abgespalten, darunter rund die Hälfte des Zentralkomitees und der komplette Jugendverband. Andere zogen sich deprimiert ins Privatleben zurück. Nicht wenige glaubten, Syriza wäre am Ende. Routos glaubte das nicht. Und er behielt recht.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Euphorie vom Frühjahr war zwar verflogen, geblieben aber war der Wille der WahlkämpferInnen, sich nicht von der Regierung verdrängen zu lassen. Sie treibt die feste Überzeugung an, dass Griechenland nicht wieder jenen überlassen werden darf, die das Land in den Abgrund gewirtschaftet und sich selbst die Taschen gefüllt hatten. „Wir wussten, dass die Lage katastrophal war“, sagt der 64-Jährige heute. „Aber wir wollten etwas für die Menschen tun.“
Seit Schülerzeiten Genosse
Nach ihrer verheerenden Niederlage bei den Europa- und Regionalwahlen am 26. Mai stehen nun am Sonntag in einer Woche wieder Parlamentswahlen an. Eine dritte Chance wird es nicht geben. „Es dürfen nicht wieder die an die Macht kommen, die die Krise verursacht haben“, sagt Routos immer noch. Doch genau so dürfte es kommen. Offen ist nur noch die Frage, wie hoch der Wahlsieg der nationalkonservativen Nea Dimokratia (ND) am 7. Juli ausfallen wird. In Umfrageergebnissen pendelt sie um die 39 Prozent, Syriza um 28.
Im Syriza-Büro hat sich nicht viel verändert. Gut, das Porträt Rosa Luxemburgs hängt nicht mehr ganz so einsam an der Wand, ein paar Plakate sind hinzugekommen. Doch das Mobiliar ist noch immer spärlich. Chefsessel gibt es keine. „Darf ich rauchen?“, fragt Routos in die Gruppe, die im Flur neben einem Empfangstisch steht. Die Leute nicken.
Vor vier Jahren rauchte Routos noch Camel ohne Filter. Nachdem ihm der Arzt geraten hat, mit dem Rauchen ganz aufzuhören, raucht er jetzt Karelia Filtro, eine leichtere griechische Marke. Auch seine Partei hat sich den Verhältnissen angepasst. „Syriza hat nicht die sozialistische Politik gemacht, die sie machen wollte“, sagt er. „Das war einfach nicht möglich.“ Die Wirtschaftskrise und die EU haben das verhindert. „Wir haben gemacht, was machbar war.“
Routos ist seit Schülerzeiten Genosse. Ende der Sechziger, in der Zeit der faschistischen Militärdiktatur, schloss er sich der damals illegalen eurokommunistischen KKE-Inland an, einem Vorläufer von Syriza. Fünfundvierzig Jahre lang arbeitete er für griechische und internationale Banken, bis er 2013 in Frühpension geschickt wurde. Heute arbeitet er ehrenamtlich für Syriza.
Zeit zum Aufbruch
Triantafyllos Mitafidis begrüßt Routos herzlich, als er den kleinen Versammlungsraum im Syriza-Büro betritt. Die beiden kennen sich seit Langem, 1969 sperrten die Obristen den jungen linken Studenten Mitafidis für vier Jahre ins Gefängnis. An diesem drückend heißen Samstagmorgen haben sie sich mit MitstreiterInnen im Syriza-Büro verabredet, um gemeinsam in den Straßenwahlkampf zu ziehen. Mitafidis will wieder ins Parlament einziehen. Der 72-Jährige gehört dem Zentralkomitee von Syriza an.
An einen Sieg Syrizas glaubt aber auch Mitafidis nicht mehr. „Wir haben die enge Verbindung zu den Menschen verloren“, sagt der pensionierte Lehrer selbstkritisch. „Gemessen an den realen Möglichkeiten, waren die Ansprüche vieler an die Syriza-Regierung einfach zu groß.“ Trotzdem hat die Regierung einiges erreicht, ist er überzeugt. Etwa dass 2 Millionen Menschen, die nicht krankenversichert waren, nun Zugang zu medizinischer Versorgung haben. „Das dürfen wir nicht kampflos aufgeben“, sagt er.
Mitafidis ist im griechischen Parlament Vorsitzender einer parlamentarischen Sonderkommission, die die Forderungen an die Bundesrepublik nach Reparationszahlungen für die deutschen Verwüstungen in Griechenland im Zweiten Weltkrieg errechnet hat. Auf rund 290 Milliarden Euro ist die Kommission gekommen. Dass Berlin das Thema für „rechtlich und politisch abgeschlossen“ hält, empört Mitafidis. „Wir sind überhaupt nicht dieser Meinung“, formuliert er zwar diplomatisch. Aber es ist ihm anzusehen, dass Mitafidis auch noch ganz andere Worte dazu einfallen.
Es ist Zeit zum Aufbruch. Kurz vor 11 Uhr machen sich rund 30 Syriza-AktivistInnen auf den Weg. Ausgerüstet mit Stapeln von Wahlprogrammen, gehen sie über die verkehrsberuhigte Aristotelesstraße in Richtung Uferpromenade. Die Reaktionen der Passanten sind mal freundlich, mal ablehnend: „Ich habe euch vier Jahre nicht gesehen, jetzt muss ich euch auch nicht sehen“, schimpft eine ältere Passantin.
„Die Leute sind ärgerlich“, sagt Chryssa Tzelepi. Die 44-jährige Dokumentarfilmerin bewirbt sich um ein Parlamentsmandat, doch ihre Aussichten stehen nicht gut. Dass sich Syriza trotz gegenteiliger Ankündigung letztlich den ungeliebten Vorgaben aus Brüssel beugte, etwa Teile der Infrastruktur wie die Häfen oder Regionalflughäfen zu privatisieren, hat viele WählerInnen zutiefst frustriert.
Homophobie im Alltag
Syriza musste viele Kompromisse eingehen. Das hat dem Image der Partei geschadet. Hinzu kommen individuelle Instinktlosigkeiten. Als kurz vor den Europawahlen herauskam, dass sich ausgerechnet der linke Saubermann Alexis Tsipras im Sommer 2018 einen peinlichen Luxusjachturlaub im Ionischen Meer auf Einladung eines prominenten Reeders gegönnt hatte, war das eine Steilvorlage für die Opposition. Auch manches Wahlkampfmanöver kam nicht gut an. Eine einmalige zusätzliche Rentenzahlung nur sechs Tage vor der EU-Wahl war schon sehr plump und erinnerte an das Gebaren, das Syriza bei der Nea Dimokratia immer angeprangert hatte.
Trotzdem: Chryssa Tzelepi will nicht hinnehmen, dass die Verantwortung der konservativen und sozialdemokratischen Vorgängerregierungen für die tiefe ökonomische und soziale Krise Griechenlands aus dem Blick geraten ist. Und dass die Erfolge von Syriza nicht gesehen werden, beispielsweise die Einführung einer Mindestsicherung für Bedürftige oder die Erhöhung des Mindestlohns. Im Wahlkampf aber wird es vor allem um Steuern gehen. Tsipras-Herausforderer Kyriakos Mitsotakis von der Nea Dimokratia verspricht, sie drastisch zu senken.
Einige Stunden später haben sich vor dem Weißen Turm, dem Wahrzeichen der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki, Tausende von Menschen zur diesjährigen Pride Parade versammelt. Als einzige Partei ist Syriza auf dem Event der LGBT-Community mit Fahnen und einem großen Transparent präsent. Mehrere Abgeordnete sind gekommen, darunter Mitafidis. Routos ist ebenfalls dabei. „Die anderen Parteien halten sich lieber fern“, sagt er. Homophobie gehöre auch in Griechenland immer noch zum Alltag, fügt er bedauernd hinzu.
Giannis Boutaris läuft wie jedes Jahr ganz vorne mit. Der parteilose Linksliberale ist noch bis September Bürgermeister von Thessaloniki. Seit 2011 lenkt der frühere Winzer so integer wie unprätentiös die Geschicke von Griechenlands zweitgrößter Stadt. Sein Einsatz für Minderheiten, sein Erinnern an das verdrängte jüdische und osmanische Erbe haben ihm viel Anerkennung eingebracht. Und auch viel Hass. Im Mai letzten Jahres wurde Boutaris genau hier am Weißen Turm von Ultranationalisten krankenhausreif geprügelt.
„Keine Strategie, um das Land neu zu gestalten“
„Es ist sicher, dass die Nea Dimokratia gewinnen wird“, sagt der 77-Jährige mit dem goldenen Stecker im linken Ohrläppchen. Das Europawahlergebnis sei eindeutig gewesen, „den Abstand kann Syriza nicht mehr aufholen“. Seine Bilanz der letzten vier Jahre ist durchwachsen. Dass im Dezember 2015 Griechenland als erstes orthodox geprägtes Land die Eingetragene Partnerschaft für Homosexuelle eingeführt hat, ist für ihn „auf jeden Fall ein sehr guter Schritt“ gewesen. Auch dass es Tsipras gelungen ist, den unseligen Namensstreit mit dem exjugoswlawischen Mazedonien beizulegen, findet sein Einverständnis. Doch insgesamt fällt das Urteil negativ aus. „Er hat versucht, viele Dinge zu ändern“, sagt Boutaris. „Aber es scheint, dass es nicht funktioniert hat.“
Dimitris Routos, Syriza
Zwar hält er Tsipras für einen „sehr charismatischen Menschen“. Aber der Syriza-Frontmann habe „keine Strategie, um das Land neu zu gestalten“, glaubt Boutaris. Damit das gelinge, müsste die Spaltung der griechischen Gesellschaft überwunden werden und müssten Syriza und Nea Dimokratia bereit sein, aufeinander zuzugehen.
Aber wäre eine solche Kooperation überhaupt denkbar? Für Dimitris Routos ist das unvorstellbar. „Die Nea Dimokratia ist eine neoliberale Partei mit vielen Elementen der extremen Rechten, sie steht für eine Politik des Klientelismus und der Korruption“, sagt er und verspricht: „Wir werden eine starke linke Opposition sein.“ Aber er sagt auch: „Wenn Syriza die Wahl verliert, wird sich vieles in der Partei verändern. Wir werden uns fragen müssen: Was haben wir falsch gemacht?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies