Surrealismus und Antifaschismus: Unter der Schablone wächst es wild
Was kommt raus, wenn die Kunst des Surrealismus als politische Bewegung gedeutet wird, wie es jetzt das Lenbachhaus München in einer Ausstellung tut?
Für viele ist der Surrealismus wohl eher ein kitsch-ästhetisches Psychedelikum, wenn man etwa an Salvador Dalís Taschenuhren denkt, die auf seinen Bildern in irritierenden Landschaften wegschmelzen wie eine Scheibe erhitzter Raclettekäse. Da mag die Ausstellung „Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus + Antifaschismus“ im Kunstbau des Lenbachhauses München überraschen. Denn in dieser Schau wird der Surrealismus nicht mehr als ein künstlerisch-literarischer Stil der Moderne dargestellt, sondern als „politisierte Bewegung von internationaler Reichweite und internationalistischen Überzeugungen“, so der Pressetext.
Ein interessanter Ansatz. Es stimmt, der vor einhundert Jahren im ersten Manifest von André Breton wortreich ins Leben gerufene Surrealismus sollte, ähnlich wie zuvor Dada, die herrschenden Verhältnisse überwinden. Kunst und Literatur waren dafür allenfalls ein Mittel. Ein „psychischer Automatismus“, so Breton, sei der Surrealismus, oder ein „Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung“. Die einfachste surrealistische Handlung, schreibt der französische Schriftsteller wenige Jahre später, bestehe darin, „mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen“.
Nicht, dass dies Rezept wörtlich zu nehmen wäre, doch die Geschichte der surrealistischen Bewegung ist von öffentlichen Skandalen, Positionskämpfen und teils handfest ausgetragenen Konflikten über künstlerische wie politische Standpunkte nicht zu trennen.
Der Surrealismus als revolutionäre Kraft geriet dann auch schnell in Konkurrenz zur Moskau-gesteuerten Kommunistischen Internationalen. Die Komintern beharrte auf eine proletarische „Weltrevolution“ zur Überwindung der Verhältnisse. Die Surrealisten wollten jedoch nicht nur die Welt revolutionieren, sondern auch das Leben, gespeist aus Karl Marx’ historischem Materialismus, Arthur Rimbauds poetischer Erfahrung und Sigmund Freuds psychoanalytischen Schriften. Sie strebten an, was der Literaturwissenschaftler Peter Bürger als Hauptmerkmal der großen Projekte der Avantgarde ausgemacht hat: Die Kunst in Lebenspraxis aufgehen zu lassen. Schade, dass das dreiköpfige Kuratorenteam in München um Stephanie Weber seine Revision des politischen Engagements der Surrealisten ausgerechnet am alten Kampfbegriff des Antifaschismus ausrichtet. Der hatte besonders während der Stalinisierung der 1920er Jahre Konjunktur.
„Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus + Antifaschismus“. Kunstbau Lenbachhaus, München, bis 2. März 2025. Katalog erscheint in Kürze bei Hatje Cantz.
Die heraufdämmernden Faschismen in Europa
Es gibt Überschneidungen: Für die heraufdämmernden Faschismen in Italien und Spanien und vor allem für den Nationalsozialismus hatten die Surrealisten nur wenig übrig. Früh traten die Akteure des Surrealismus auch gegen den Kolonialismus an, etwa als Fürsprecher der nordafrikanischen Rifkabylen in einem Aufstand, den die Kolonialarmeen Frankreichs und Spaniens auch mit chemischen Waffen niederwarfen. Unter den zahlreichen Dokumenten, die die Schau aus der vierzigjährigen Geschichte der Bewegung zeigt, sticht ein Flugblatt heraus. Das annonciert eine surrealistische Gegenausstellung zur offiziellen „Exposition coloniale internationale“, die von Mai bis September 1931 in Paris stattfand. Darauf ein markiges Marx-Zitat vor lieblos aufgereihten afrikanischen Skulpturen: „Ein Volk, das andere unterdrückt, kann sich selbst nicht befreien!“
Trotzdem gerieten die Surrealisten schnell mit den parteiisch organisierten Kommunisten Frankreichs in Konflikt, nicht zuletzt mit dem autoritären Führungsanspruch Stalins. Fast wäre die Pariser Gruppe um André Breton Ende der 1920er Jahre im Richtungsstreit darüber zerbrochen, wie man sich einen „Surrealismus im Dienst der Revolution“ genau vorzustellen habe. 1938 traf sich Breton mit Leo Trotzki in dessen Exil in Mexiko. Ergebnis ist die gemeinsam verfasste Kurskorrektur „Pour un art révolutionnaire indépendent“. Aber: Hatte sich nicht auch die tschechische Gruppe in Karl Teiges Manifest „Surrealismus gegen den Strom“ um Abgrenzung nach zwei Seiten, gegen Nazis wie Stalinisten, bemüht? Diese Schrift findet sich leider nicht in der sonst recht üppig bestückten Schau.
Um die historischen Umstände und politischen Feinheiten ist die Münchener Ausstellung eher unbekümmert. Stattdessen stellt sie in einem kleinteiligen Lehrpfad die Kunst der Surrealisten und ihre Aktivitäten gegenüber, die sie meist pauschal als „antifaschistisch“ deklariert. In räumlich voneinander abgesetzten Kapiteln – zum Beispiel „Gespenster in Prag“, „Zoff in Paris“ oder „Exile“ – werden Schlüsselszenen und Nebenwege aus der vier Jahrzehnte überspannenden Geschichte der Bewegung bearbeitet. Was den Surrealismus zur einflussreichsten Avantgardebewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht hat, scheint dabei nur indirekt auf.
Fast vierhundert Exponate fährt das Lenbachhaus im Kunstbau auf, darunter Dokumente, Bücher und Zeitschriften. Etwa von der obskuren Widerstandszelle „La Main à plume“ mit ihrer riskanten Engführung von Poesie und Widerstand im von den Nazis besetzten Paris. Oder die handgeschriebenen „Paper Bullets“, die Fotografin Claude Cahun mit ihrer Partnerin Marcel Moore während des erzwungenen Aufenthalts auf der Kanalinsel Jersey Anfang der 1940er Jahre verbreitete: „Lasst eure Maschinen langsamer gehen/Verderbt sie verstohlenerweise“ heißt es auf einem der mit Bleistift oder Schreibmaschine beschriebenen Zettelchen, die als subversive Botschaften an die dort stationierten Wehrmachtsoldaten gerichtet waren. Solche Zeugnisse aktiven Widerstands unter prekären Bedingungen erlauben einen neuen Blick auf das Werk Cahuns. Bislang ist sie eher für ihre Fotos und Fotomontagen bekannt, in denen sie sich gegen Geschlechtszuschreibungen und Rollenbilder zur Wehr setzt. 1944 werden Cahun und Moore von der Gestapo verhaftet. Das Kriegsende verhindert ihre Hinrichtung.
Das Klischee des Traumbilds
Das Lenbachhaus hat keine Blockbuster-Schau eingerichtet, das ist ihm hoch anzurechnen. Die berühmten Protagonisten des Surrealismus – Salvador Dalí, Joan Miró oder René Magritte –, die sonst lange Besucherschlangen vorm Museum garantieren würden, tauchen kaum auf. Ein einsames Gemälde von René Magritte in der Ausstellung entspricht dann auch ziemlich dem Klischee des surrealistischen Traumbilds: „L’ombre terrestre“ (1928) zeigt einen Dinosaurier mit menschlichen Füßen in einer leeren, bühnenhaften Landschaft.
In den Fokus der Schau rücken mit Victor Brauner, Leonora Carrington, Jacques Herold, Wilfredo Lam, Lee Miller, Wolfgang Paalen, Jindřich Štyrský oder Remedios Varo stattdessen die Nebenfiguren. Sie machen auch deutlich, warum die Kunst des Surrealismus zu solch einem Wildwuchs tendiert: Die unkontrollierten Gesten von André Masson geben einen Vorgeschmack auf die abstrakte Nachkriegsmalerei eines Jackson Pollock, die B-Movie-reifen Angstszenarien von Leonora Carrington hängen ihre Gemälde selbstbewusst zwischen Akademismus und Hobbykunst ein und die tschechischen Surrealisten Štyrský und Toyen verbacken spontan aufgestrichene, dicke Farbmasse, ohne Rücksicht auf Geschmack oder Stil, zu amorphen Aquarienlandschaften. Ihre Freakiness blieb kunsthistorisch eher folgenlos. Ausführlich wird der Österreicher Wolfgang Paalen vorgestellt. Er nutzte abgelagerten Ruß als Malmittel, auch fumage genannt, und arbeitete im mexikanischen Exil an einer Philosophie, die indigene Kunst mit Quantentheorie kombinierte.
Es ist also vieles neu zu entdecken in dieser Ausstellung. Und das, obwohl das politästhetische Potenzial des Surrealismus auch in Deutschland seit Langem erforscht und kritisch diskutiert wird. Mit seinen dicht bestückten Vitrinen- und Regaldisplays fehlt der Ausstellung aber eine gewisse Sensibilität gegenüber der Kunst und dem Publikum. Der Sinn des Münchner Großprojekts erschließt sich am besten für diejenigen, die schon wissen, wonach sie suchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren