Biografie von Lee Miller nun auf Deutsch: Der schönste Nabel der Welt
Partygirl, Engel der Surrealisten, Kriegsreporterin: Über das Leben seiner Mutter Lee Miller hat Antony Penrose eine lesenswerte Biografie geschrieben.
Manchmal beginnt alles mit einem Zufall. Die gut 40 Jahre nach ihrem Tod nun auch in Deutschland zur Ikone aufgestiegene Lee Miller (1907–1977) hätte ihr Leben in der Provinzstadt Poughkeepsie verbringen können, aber dann lief sie beim achtlosen Überqueren einer Straße in New York vor ein Auto und wurde in letzter Sekunde von einem Mann zurückgerissen. Dieser war der Medienunternehmer Condé Nast, Besitzer von Vogue, der der gutaussehenden Lee Miller anbot, für ihn als Model zu arbeiten. Kurze Zeit später zierte sie das Cover.
Der Rest ihres abenteuerlichen Lebens wurde schon häufig erzählt, nun ist auch ihre Biografie auf Deutsch unter dem Titel „Immer lieber woanders hin“ erschienen, die in England schon seit 1985 vorliegt und von ihrem Sohn Antony Penrose verfasst wurde. Dem von ihr ungeliebten Kind wurde erst nach ihrem Tod 1977 so langsam klar, wer seine Mutter eigentlich war. Seither sichtete und archivierte er unermüdlich ihr Lebenswerk als Fotografin und Autorin und stellte es der Öffentlichkeit in unzähligen Büchern oder Ausstellungen zur Verfügung. Jetzt gerade zeigt das Bucerius Forum Hamburg 150 ihrer Aufnahmen. Abgedreht ist auch bereits ein Film über sie. „Lee“ kommt bald mit Kate Winslet in der Hauptrolle in die Kinos.
Die Biografie erzählt das eigenwillige und aufregende Leben von Lee Miller mit großer Zuneigung, obwohl Antony Penrose selbst noch als Jugendlicher ein angespanntes Verhältnis zu ihr hatte. Lee Miller war also nicht immer der Engel, als der sie den Surrealisten erschien, die sie wegen ihrer Schönheit in den zwanziger Jahren anbeteten, aber auch wegen ihres selbstbewussten Auftretens und ihrer freizügigen Lebensweise von ihr hingerissen waren.
Mit beeindruckender Selbstverständlichkeit war sie eines Tages bei Man Ray aufgetaucht, um ihm zu mitzuteilen, dass er ab sofort eine Schülerin hätte. Der aber meinte, er sei auf dem Weg in die Ferien, worauf Lee Miller antwortete: „Ich weiß, ich gehe mit Ihnen – und tat es. Wir lebten drei Jahre zusammen.“
Antony Penrose: „Immer lieber woanders hin. Die Leben der Lee Miller“. Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich. Insel, Berlin 2023, 290 Seiten, 20 Euro
Er lehrte sie das Handwerk des Fotografierens, sie stand für ihn Modell, und einige der Aufnahmen gehören zu den berühmtesten von Man Ray, das Magazin Time aber feierte Lee Miller „für den schönsten Nabel von Paris“. Man Ray verzehrte sich vor Eifersucht, denn Lee Miller wollte die Freizügigkeit in Liebesdingen nicht den Männern überlassen. Bloß eine Muse wollte sie nicht sein. Sie wollte vom Leben alles, was sie kriegen konnte.
Surrealistische Kostümbälle
Und das waren Partys reicher Geschäftsleute und surrealistische Kostümbälle, auf denen Max Ernst mit blauen Haaren auftrat und Paul Éluard oder Michel Leiris in ausgefallenen Gewändern steckten, um am nächsten Tag in den Armen eines Mannes aufzuwachen, der später ihr Ehemann werden sollte: der Kunstsammler und Maler Roland Penrose.
„Lee Miller. Fotografien zwischen Krieg und Glamour“: Ausstellung, Bucerius Kunst Forum Hamburg, bis 24. September
Von wilden Partys schreibt Antony Penrose häufig, aber der Zweite Weltkrieg verändert alles. Nun beginnt die auffälligste Verwandlung Lee Millers, sie begriff instinktiv, dass man sich aus diesem Krieg nicht einfach heraushalten konnte, während die Freunde in Paris von den Nazis auf eine schwarze Liste gesetzt wurden oder flüchten mussten.
Sie ähnelt hier ein wenig den komischen Helden in Hitchcocks „Eine Dame verschwindet“: kein politisches Engagement, kein theoretisches Interesse, im Kopf nur Kricket, im Falle Lee Millers vor allem Partys und Reisen. Aber als der Krieg ausbricht, denkt sie keine Sekunde daran, sich in New York in Sicherheit zu bringen. Im Auftrag der Vogue setzt sie mit den alliierten Truppen über in die Normandie und berichtet in brillanten Reportagen und mit schockierenden Fotos vom Krieg und von den Leichen in Buchenwald und Dachau, von der Befreiung ihres geliebten Paris und den Deutschen, die nichts von all dem gewusst haben wollten.
Aus dem eleganten Partygirl war eine Frau geworden, die in schweren Militärstiefeln unterwegs war. Die „kollektive Amnesie“, die sich über die Erinnerung der Deutschen legte, setzte ihr zu. Sie reiste nach dem Zusammenbruch des NS verzweifelt durch das zerstörte Osteuropa, aber niemanden interessierte mehr das Elend, von dem sie berichten wollte. Ins „normale Leben“ konnte Lee Miller nicht wieder zurückkehren. Für sie, die schon früher „so zerrissen und uneins mit sich“ war, hatte das Leben seine Leichtigkeit verloren.
Antony Penrose hat es geschafft, das, was eine Mutter quälte, richtig einzuordnen, ohne sein auch problematisches Verhältnis zu ihr eine Rolle spielen zu lassen. Sein Porträt ist von einer Leichtigkeit geprägt, die dem Wesen Lee Millers entsprach, bevor sie von Depressionen heimgesucht wurde. Und da er nicht versucht hat, einen Mythos aus ihr zu machen, kommt man nicht umhin, sie uneingeschränkt zu bewundern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“