Studie zu Grenzfluss Evros: Wem gehört die Insel?
Eine Studie zeigt, wie Geflüchtete Opfer ungeklärter Grenzkonflikte zwischen Griechenland und der Türkei werden. Sie stammt von der Forschungs-NGO Forensis.
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Es war der 16. März 2022, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) in Straßburg eine einstweilige Verfügung gegen Griechenland erließ. Einer Gruppe von 30 Asylsuchenden, die da seit sechs Tagen auf einer Insel im Grenzfluss Evros festsaß, sei Zugang zu „Nahrung, Wasser, Kleidung und angemessener medizinischer Versorgung“ zu gewähren – „falls die Insel griechisches Territorium ist“, wie es in dem Beschluss heißt.
Falls? Die merkwürdig anmutende Einschränkung offenbart einen erstaunlichen Zustand: Der 1923, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, festgelegte Verlauf der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland ist am Evros bis heute nicht offiziell bekannt gemacht worden. Gewiss: Es gibt eine Grenzlinie auf Google Maps, auf der Webseite der Katasterbehörde Elliniko Ktimatologio sind gar drei parallele Grenzlinien ausgewiesen.
Tatsächlich aber sei der „exakte Grenzverlauf nie öffentlich ausgewiesen worden“, sagt Stefanos Levidis. „Und diese territoriale Konfusion wird heute missbraucht, um Geflüchtete zu entrechten.“
Levidis arbeitet für die in Berlin ansässige NGO Forensis. Mit drei Kolleg:innen hat Levidis, auf eigene Initiative, wie er sagt, seit 2021 daran gearbeitet, den exakten Grenzverlauf zu bestimmen. Am Mittwoch schaltete Forensis das von der Open Societey Foundation und der Rosa Luxemburg-Stiftung finanzierte Online-Kartenprojekt zur 159 Kilometer langen türkisch-griechischen Landgrenze frei.
Der Lauf des Flusses änderte sich
Im Vertrag von Lausanne ist die Grenze nur grob als Mittellinie des Flusses bestimmt. Ab 1923 war eine multinationale Demarkationsgruppe drei Jahre lang am Evros unterwegs, um den exakten Grenzverlauf zu bestimmen. 1926 legte sie im „Athener Protokoll“ ihre Entscheidungen dar und präsentierte dazu zehn einzelne Karten. Doch viele der darauf verzeichneten Referenzpunkte existieren nicht mehr: Der Lauf des Flusses änderte sich, neue Inseln und Sandbänke entstanden, andere verschwanden, ebenso wie Gebäude, Wege oder Straßen.
Die Gruppe um Levidis hat die historischen Karten von 1926 aus dem UK Nationalarchiv digitalisiert und mit den heute noch existierenden Referenzpunkten abgeglichen. So ermittelte sie eine Grenzlinie, die dem Willen der damaligen Bestimmungen entsprechen und mit den heutigen geografischen Gegebenheiten übereinstimmen soll. Auf diese Weise hoffte sie, Evidenz für künftige Rechtsstreitigkeiten um Geflüchtete in dem Gebiet schaffen zu können.
7.500 Menschen reisten 2024 über den Evros irregulär nach Griechenland ein. In dem Gebiet werden „Flüchtlinge gejagt, inhaftiert, gefoltert, von Grenzschutzbeamten über den Fluss zurückgedrängt oder teils wochenlang auf kleinen Inseln ausgesetzt“, schreibt Forensis. Die Flussufer seien militärische Pufferzone, mit Wachposten, Wachtürmen und Zäunen. Die IOM zählt seit 2014 insgesamt 112 Tote in dem Grenzgebiet, die Dunkelziffer dürfte höher liegen.
Die 30 Asylsuchenden, zu denen der ECHR im März 2022 eine Verfügung getroffen hatte, gaben später an, von maskierten griechischen Grenzschutzbeamten geschlagen und auf die Insel gezwungen worden zu sein. Bei dem Pushback sei ein vierjähriges Kind im Fluss ertrunken.
Folgen des einstigen Bevölkerungsaustauschs
Die rechtliche Verantwortung für solche Fälle schieben sich die Türkei und Griechenland hin und her – und machen sich dabei den unscharfen Grenzverlauf in dem Gebiet zunutze.
Zu begreifen ist das nur vor dem Hintergrund, dass das Verhältnis der beiden Länder „historisch sehr konfliktbeladen und spannungsreich“ ist, sagt Boris Kanzleiter von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Athen. Der Vertrag von Lausanne hatte die Zwangsumsiedlung von 1,2 Millionen anatolischen Griechen und 400.000 Muslimen in Griechenland zur Folge.
„Die Stimmung ist deshalb bis heute geladen“, sagt Kanzleiter. Es gebe immer wieder Territorialkonflikte, zuletzt um Gasfelder im Mittelmeer oder in Nordzypern. 2022 hatte der türkische Präsident Erdoğan gar gesagt, die türkische Armee könne „eines Nachts plötzlich kommen“, Griechenland solle „sich an die Geschichte erinnern.“
Wie bei Forensis üblich, mutet die Online-Karte mit 3D-Ansicht, allerlei aktuellen politischen und historischen Layern und technischen Gimmicks ästhetisch sehr exakt an und soll so Verbindlichkeit signalisieren. Doch eine Anerkennung durch die beiden Staaten gibt es nicht.
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