Studie über Kindesmissbrauch in der DDR: Gebrochen und ignoriert
Eine Fallstudie beleuchtet sexuellen Missbrauch in der DDR. Viele Betroffene haben unglaubliches Leid erfahren und bis heute keine Entschädigung bekommen.
Ihre Lebensgeschichte klingt wie aus der Hölle: Kinderreiche Familie, jeden Tag Prügel. Das Mädchen ist 11 Jahre alt, als der Vater beginnt, sie zu vergewaltigen. Das Mädchen vertraut sich einer Freundin an, einer Lehrerin, schließlich dem Jugendamt. Man glaubt ihr auch dort nicht. „Von diesem Tag an hat sich mein Leben verändert“, sagt sie.
Sie beginnt „rabiat zu klauen“, reißt immer wieder von zu Hause aus, bis sie ins Heim kommt. Dort besucht sie auch die 7. und 8. Klasse der Oberschule. „Die zwei Jahre waren wie eine Erleichterung“, sagt sie. „Ich konnte lernen, niemand fasste mich an.“
Dann schickte man sie zurück nach Hause. Schließlich landete sie im Jugendwerkhof Torgau, ein gefängnisähnliches DDR-Spezialheim, in dem Drill und Misshandlungen an der Tagesordnung waren. „Zu meinem Geburtstag bekam ich nächtlichen Besuch vom Direktor. Als ich von der Vergewaltigung erzählte, bekam ich fünf Tage Arrest wegen Belügens.“ Von da ab, erzählt Viehrig-Seger, habe sie nur noch funktioniert. „Ich war gebrochen.“
Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen war in der DDR weit mehr und länger tabuisiert als in den alten Bundesländern. Es wurde weder privat noch öffentlich über sexuelle Gewalt in der Familie oder auch nur einen Aufenthalt in einem Heim gesprochen. Bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs haben sich seit 2016 zahlreiche Betroffene gemeldet, die in vertraulichen Anhörungen oder schriftlichen Berichten sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit und Jugend in der DDR schildern. Die Kommission wurde 2016 vom Unabhängige Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs für die Dauer seiner Amtszeit bis 2019 einberufen.
Für die am Mittwoch von Kommissionsmitglied Christine Bergmann sowie Corinna Thalheim, Vorstandsvorsitzende der Betroffeneninitiative „Missbrauch in DDR-Heimen“, vorgestellten Fallstudie wurden zu den beiden Schwerpunkten Institutionen und Familie 75 Anhörungen und 27 Berichte ausgewertet und in den historischen Kontext der DDR-Gesellschaft eingeordnet. Autorinnen sind Beate Miszscherlich, Pflegeforscherin an der Universität Zwickau, und Cornelia Wustmann, Professorin für Beratung und soziale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden.
Bei der Auswertung stand das sozialistisch geprägte Menschen- und Familienbild der DDR ebenso im Mittelpunkt wie die Frage der Lebensführung vor und nach der Wiedervereinigung. Die Studie umfasst zwei Teile: Sexueller Missbrauch in DDR-Institutionen wie Heimen und Jugendwerkhöfen und Taten im familiären Kontext.
Neben den historischen Rahmenbedingungen der DDR als „Erziehungsdiktatur“ die sexuelle Übergriffe im erzieherischen Kontext begünstigten, werden auch die Mechanismen für die vielfache Nichtaufdeckung und Nichtverfolgung benannt: Gesellschaftliche Tabuisierung sexuellen Missbrauchs, die Organisation staatlicher Einrichtungen als „totale Institutionen“ mit Drill und extremen Hierarchien und die Angst vor staatlichen Sanktionen bei Fehlverhalten innerhalb von Familien. (api)
Neue Fallstudie zur Aufarbeitung
Biografien wie diese bilden die Basis der „Fallstudie Sexueller Kindesmissbrauch in Institutionen und Familien in der DDR“, die am Mittwoch von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Berlin vorgestellt wurde. Insgesamt 75 Anhörungen und 27 Berichte von Betroffenen wurden dafür ausgewertet.
29 von ihnen wurden in staatlichen Institutionen wie Kinderheimen, Schulen und Jugendwerkhöfen missbraucht, die übrigen in ihren Familien. Manche von ihnen haben ihre Familie nie kennengelernt und wuchsen unter der Obhut des Staats auf, einige landeten erst durch den häuslichen Missbrauch im Jugendhilfesystem, wo sie dann erneut missbraucht wurden. Eine Minderheit erlebte kommerzielle sexuelle Ausbeutung.
Über sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der DDR war lange nichts bekannt. Die DDR-Behörden erfassten solche Straftaten nicht, Vorfälle lassen sich höchstens aus Akten rekonstruieren. Das änderte sich erst mit der Arbeit des Runden Tisches: Die 2010 von der Bundesregierung mit der Untersuchung von sexuellem Kindesmissbrauch beauftragte Arbeitsgruppe erkannte hier dringenden Aufarbeitungsbedarf.
„Die Öffentlichkeit muss das erfahren“
Die 2015 eingesetzte Unabhängige Kommission widmete ihre erste Laufzeit der Erforschung des Missbrauchs im DDR-Kontext. Nach vertraulichen Anhörungen, bei denen viele erstmals über ihre Erlebnisse sprachen, gab es 2017 ein öffentliches Hearing in Leipzig, auf dem auch Renate Viehrig-Seger vor etwa 150 Gästen erzählte, was ihr widerfahren war. Das sei nicht leicht gewesen, sagt sie, aber befreiend. „Die Öffentlichkeit muss das erfahren“, findet sie. „Viele wissen immer noch nicht, welches Unrecht da ablief.“
Heute ist in den Räumen des Jugendwerkhofs, den bis zu seiner Schließung Ende 1989 mehr als 4.000 Jugendliche durchlaufen haben, eine Gedenkstätte, die an die Auswüchse der repressiven DDR-Heimerziehung erinnert. Auch Renate Viehrig-Seger besuchte 2013 zusammen mit anderen ehemaligen Heimkindern die Gebäude, in denen sie gequält worden war. Sie engagiert sich in der Betroffeneninitiative „Verbogene Seelen“ und spricht als Zeitzeugin vor Schulklassen.
Die neue Studie, die auch Elemente ihrer Lebensgeschichte aufnimmt, begrüßt sie. „Die Aufarbeitung steht noch ganz am Anfang. Noch immer reden nicht alle, und viele Heimakten sind weg.“
Die Fallstudie kann zu einer qualitativen Analyse nur bedingt beitragen. Sie basiert nicht auf systematisch erhobenen Daten, was angesichts der schlechten Aktenlage auch kaum möglich ist. Vielmehr versucht sie anhand von individuellen Schicksalen herauszuarbeiten, welche speziellen Rahmenbedingungen in der DDR Missbrauch begünstigten, in welcher Situation die Betroffenen heute sind und welche Botschaft ihre Geschichten an die heutige Gesellschaft senden.
Mehrfach tabuisiert: Offiziell gab es so etwas nicht
Sexuelle Gewalt an Kindern, so stellen die ForscherInnen fest, war in der DDR mehrfach tabuisiert. Offiziell gab es so etwas im sozialistischen Staat nicht, ebenso wie Kindesmisshandlung oder Kindstötung, die als Auswüchse bürgerlicher Gesellschaften galten. Zudem gab es in der DDR kaum Wissen über das Thema Kindesmissbrauch, weswegen Alarmsignale nicht erkannt oder ignoriert wurden. Auch in den Familien war das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Kindern wenig ausgeprägt – die AutorInnen der Studie führen das zum Teil auf die Doppelbelastung der meist voll berufstätigen Mütter und den allgemeinen Arbeitszwang zurück.
Festgestellt wird, dass der Staat einen starken ideologischen Anpassungszwang auf das Familienleben ausübte und das Jugendhilfesystem zur politischen Disziplinierung missbrauchte. Wegen „abweichenden Verhaltens“ wurden Kinder ihren Familien entzogen und von linientreuen Adoptiveltern oder in Heimen aufgezogen. Eine Heimkarriere galt als Stigma, die Betroffenen erlebten sich selbst als ohnmächtig in den „geschlossenen Systemen innerhalb eines geschlossenen Systems“, wie die DDR-Heime in der Studie genannt werden.
Wie dieses System funktionierte, zeigt die Biografie von René Münch, der bereit ist, sich am Rande einer Konferenz im Familienministerium mit der taz zu treffen. Der kräftige Mann, graues Haar, gewinnendes Lächeln, wirkt wie einer, den so schnell nichts umhaut. Und doch wurde der 57-Jährige seine gesamte Kindheit über in DDR-Heimen misshandelt.
Mit Hepatitis infiziert, um Medikamente zu testen
Als Sohn einer „Republikflüchtigen“ im Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf geboren, wo man ihn mit Tuberkulose und Hepatitis infizierte, um Medikamente an ihm zu testen. Dann kam er ins Dauersäuglingsheim, anschließend in das Normalkinderheim, wo die Tests weitergingen. Münch erinnert sich an Aufenthalte in Quarantänestationen und Schwächephasen.
Mit sechs Jahren schickte man ihn für einige Monate zur Mutter. „Die Frau war schwer krank, ich hatte keine Beziehung zu ihr“, sagt Münch. Der Lebensgefährte der Mutter war Alkoholiker, schlug den Jungen und vergewaltigte ihn. Im Rückblick vermutet Münch, dass ihn das Jugendamt ins offene Messer laufen ließ: Man wollte die Mutter, die jahrelang um ihr Kind stritt, als Erziehungsberechtigte ausschalten.
Danach kam Münch in ein Spezialheim für schwierige Kinder. Dort wurde er von zwei Erziehern und älteren Kindern misshandelt und missbraucht. „Mit mir konnten sie tun, was sie wollten, ich hatte keine Geschwister, keinen Rückhalt, keinen Rückzugsort.“
Die Schuld des DDR-Staates auf 500 Seiten
Münch, der sich selbst als Kämpfer bezeichnet, suchte nach seiner Entlassung Kontakt zur Mutter. Als erwachsener Mann rekonstruierte er später seine Familiengeschichte und erfuhr von mehreren Geschwistern, von denen einige auch in Heimen aufwuchsen. Als man ihm sagte, seine Heim- und Krankenakten seien unauffindbar, drohte er den Behörden mit Hungerstreik und erhielt daraufhin 500 Seiten, die dokumentieren, wie umfassend sich der DDR-Staat an ihm und seiner Familie schuldig gemacht hatte.
Heute arbeitet Münch in der Clearingstelle mit und sichtet Anträge anderer Betroffener. Seinen eigenen Missbrauch und die Medikamententests zeigte er 2013 an, 2014 stellte er einen Antrag auf Opferentschädigung. Passiert ist bis heute nichts.
Auch die VerfasserInnen der am Mittwoch vorgestellten Studie bemängeln, dass die Akteneinsicht für Betroffene oft nur mit kundiger Unterstützung gelinge. Eine Empfehlung ist das Aussetzen der Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch. Betroffene brauchten 10 bis 15 Jahre, bis sie in der Lage seien, zu sprechen.
Nur zwei Anzeigen – und keine Verurteilung
Außer René Münch hat nur ein weiterer der Befragten Anzeige erstattet. Eine Verurteilung gab es in beiden Fällen nicht, weil nach so langer Zeit die Erinnerung der Betroffenen die Bedingungen für die Glaubwürdigkeitsprüfung nicht mehr erfüllen. Da Übergriffe in den Heimen wie in den Familien meist nicht dokumentiert seien, gälten sie als unbewiesen, weswegen auch Anträge auf Opferentschädigung abgelehnt worden seien. Auch Rehabilitierung erfolge nur für politische Verfolgung, nicht aber für Übergriffe in Heimen. Zudem sei die Antragstellung oft retraumatisierend, die Erfahrung, dass man ihnen nicht glaube, verletzte die Betroffenen tief.
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Opfer sexueller Gewalt in DDR-Heimen nur unzureichende Entschädigung erfahren. Nur acht Betroffenen sei es gelungen, je 10.000 Euro Sachmittel aus dem Heimkinder-Fonds (Ost) zu bekommen, doch sei dieser nur für kurze Zeit abrufbar gewesen, von Juli 2012 bis September 2014.
Nur fünf der Betroffenen hätten ein gutes Einkommen – die meisten hätten mehrfach gebrochene Erwerbsbiografien, litten unter körperlichen und psychische Folgeschäden, viele seien auf Sozialleistungen angewiesen.
Zu den Missständen, die die Studie bemängelt, gehören zu wenige passende Therapieangebote, vor allem im ländlichen Raum, und zu bürokratische Genehmigungsverfahren. Selbsthilfestrukturen müssten gefördert und gestärkt werden, auch die Zeitzeugenprogramme, besonders im Rahmen lokaler Erinnerungskultur, müssten ausgebaut werden.
Sexueller Missbrauch kein DDR-Spezifikum
Trotz aller nötigen Aufarbeitung, so das Schlussfazit der Studie, sei sexueller Missbrauch aber kein DDR-Spezifikum – und auch nicht historisch abgeschlossen. So sieht es auch René Münch: „Über mich ist ja nicht der gesamte Staatssozialismus hergefallen, sondern einzelne Personen – und die müssen sich verantworten“, sagt er.
Die gewonnenen Erkenntnisse, so die Studie weiter, seien jetzt zu nutzen, um den Blick zu schärfen für die geschlossenen Räume in unserer Gesellschaft. Für Renate Viehrig-Seger heißt das: Nicht aufhören, Zeugnis abzulegen und zu kämpfen. „Damit nie wieder ein Kind erleben muss, was ich erlebt habe.“
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