Studie aus Gangelt zu Corona: Keine Frage des Alters
Bonner Forscher schätzen die Zahl der Coronainfizierten in Deutschland auf 1,8 Millionen. Infektionsraten hängen laut der Studie nicht vom Alter ab.
Kinder haben offenbar kein geringeres Risiko als Erwachsene, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Das ist eines der Ergebnisse der nun abschließend ausgewerteten Daten der „Heinsberg-Studie“ von Forschern des Universitätsklinikums Bonn. Der Studienleiter Hendrik Streeck, Direktor des dortigen Instituts für Virologie, stellte sie am Montag auf einer digitalen Pressekonferenz des science media center vor. Die Uniklinik Bonn veröffentlichte zeitgleich eine erste schriftliche Vorabversion der Untersuchung. Sie soll demnächst von unabhängigen Wissenschaftlern in einem sogenannten Peer-Review-Verfahren begutachtet und dann in einem Fachjournal publiziert werden.
Danach sind die Infektionsraten bei Kindern, Erwachsenen und älteren Menschen „sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab“, sagte Streeck. Es gebe auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Und: Jeder fünfte Infizierte (22 Prozent) zeigte keine Symptome; viele Studienteilnehmer erfuhren erst, dass sie überhaupt krank waren, als sie getestet wurden.
Streeck und sein Forscherteam hatten in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen zwischen dem 30. März und dem 6. April insgesamt 919 Einwohner in 405 Haushalten befragt und mit Rachenabstrichen sowie Antikörpertests auf eine akute oder bereits durchgemachte Coronainfektion getestet. In dem Ort hatten sich Mitte Februar nach einer Karnevalssitzung viele Menschen mit dem Virus infiziert; die Gemeinde gilt seither als Corona-Hotspot. Mit anderen Regionen Deutschlands ist sie aufgrund der sehr viel höheren Infektionszahlen jedoch nur bedingt vergleichbar.
Vor dreieinhalb Wochen hatten Streeck und sein Team bereits erste Zwischenergebnisse auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) präsentiert, dessen Landesregierung die Studie mit 65.000 Euro mitfinanziert hatte. Dafür waren sie auch von anderen Wissenschaftlern scharf kritisiert worden: Ohne Manuskript seien die Ergebnisse schwer nachvollziehbar und damit wenig aussagekräftig.
Sterblichkeitsrate könnte Schätzwert sein
Am Montag nun erklärte Streeck, dass die damals als vorläufig berichteten Daten sich bestätigt hätten: Danach waren in Gangelt 15 Prozent der Einwohner infiziert, und die Infektionssterblichkeitsrate, die den Anteil der Todesfälle unter den Infizierten angibt, lag in Gangelt bei 0,37 Prozent. Allerdings flossen in die Berechnung lediglich sieben Todesfälle ein. Bisher, so Streeck, sei man von einer Sterblichkeitsrate von 0,2 bis 1,5 Prozent ausgegangen; die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte sogar von 3,4 Prozent gesprochen. Diese Spannbreite könne nun besser eingegrenzt werden, so Streeck.
Und der Virologe ging noch weiter. Die Sterblichkeitsrate aus Gangelt könne als Schätzwert benutzt werden für eine Hochrechnung für ganz Deutschland. Streecks Modellrechnung funktioniert in etwa so: Der Wissenschaftler nimmt erstens an, dass die Sterblichkeit in ganz Deutschland ungefähr gleich hoch ist. Wenn zweitens bekannt sei, wie viele Infizierte auf einen Toten kommen, dann könne man von der Zahl der Verstorbenen – laut Robert-Koch-Institut derzeit rund 6.500 – auf die Zahl der tatsächlich (erfassten und auch nicht erfassten) Infizierten schließen. 1,8 Millionen Menschen könnten sich dieser Modellrechnung zufolge deutschlandweit bereits infiziert haben.
Der Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, Gérard Krause, warnte während der Pressekonferenz des science media center allerdings vor einer solchen Verallgemeinerung für ganz Deutschland. Obwohl die schriftliche Studie insgesamt „sehr überzeugend“ sei, so Krause, sei er bezüglich der Übertragung der Daten auf ganz Deutschland doch „eher zurückhaltend“.
So lasse sich zum einen einwenden, dass der Anteil der an Covid-19 Verstorbenen in Gangelt ungewöhnlich niedrig sei. Zum anderen könne es sein, dass die starke Ausbreitung des Virus in Pflege- und Altenheimen, wie man sie zuletzt andernorts beobachten konnte, in Gangelt zum Zeitpunkt der Untersuchung noch gar nicht berücksichtigt werden konnte. Und schließlich falle aufgrund der kleinen Einwohnerzahl – in Gangelt leben nur rund 12.597 Menschen – bereits ein einzelner Todesfall stark ins Gewicht, was zu Verzerrungen führen könne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs