StudiVZ wird abgeschaltet: Gruschel mich ein letztes Mal
Nach 16 Jahren soll das Netzwerk StudiVZ am 31. März endgültig schließen. Ein Nachruf und ein Streifzug durch ein soziales Brachland.
„Juliane, ich war ein Idiot und es tut mir leid!“ Wir haben uns damals im Zivildienst kennengelernt, ich stand kurz vor der Immatrikulation. 2010 hattest du mir eine sehr persönliche Nachricht geschickt, ich war überfordert und habe einfach nicht geantwortet. Ich hatte sie also geghostet, noch bevor irgendjemand diesen Begriff kannte. Auf StudiVZ.
Das kann ich alles nachlesen, heute, satte zwölf Jahre nach unserer letzten Konversation. So wie 80 Prozent meiner Freunde in diesem digitalen Nirwana ist Juliane unterdessen eine „Gelöschte Person“ ohne Bild und weitere Info. Aber dieser kleine Nachrichtenwechsel, der ist noch da, und ich erinnere mich. Nicht mehr lang, dann geht auch das nicht mehr, dann ist alles weg, für immer: Am 31. März soll das „Studiverzeichnis“ schließen.
Der Tod von StudiVZ, er wurde oft herbeigeschrieben, angekündigt, eingeleitet und dann doch wieder verzögert. Schon vor Jahren sah es in dem Netzwerk so aus, als seien Massen lebenslustiger junger Menschen übereilt geflohen, als sei ein großes Unglück passiert. Niemand schickt mehr Vorlesungsfolien herum, lädt zu seinem 20. Geburtstag, Verzeihung, „Burzeltag“ ein, keiner gründet lustige Gruppen, schreibt auf Pinnwände, flirtet, schäkert, „gruschelt“. Nur noch ein paar eingefrorene Profile sind zu sehen, Bilder und Fragmente aus einem anderen Jahrzehnt, verwaist, liegen gelassen in einem prähistorischen, pinkfarbenen Webdesign.
Geflohen ist niemand, aber das große Unglück hatte einen Namen: Facebook. 2011 ermittelte ein Marktforschungsinstitut höhere Nutzerzahlen bei dem amerikanischen Netzwerk, dem StudiVZ nachempfunden wurde. 16 Millionen Menschen waren da bei StudiVZ registriert – ein Vielfaches mehr, als es überhaupt Student*innen in Deutschland gab. Aktiv waren aber nur noch etwa 6 Millionen. StudiVZ und die anderen VZ-Netzwerke (schülerVZ, meinVZ) stürzten rasant ab. Mit dem Innovationstempo des Zuckerberg’schen Netzwerkes konnte kein deutscher Ableger – auch nicht das ebenfalls populäre „Wer-kennt-wen“ oder die „Lokalisten“ – mithalten.
Es sah mal vielversprechend aus
Im Jahr 2013 schloss das schülerVZ. 2017 meldete der Eigentümer der VZ-Netzwerke – Poolworks, ein Tochterunternehmen der Georg-von-Holtzbrinck-Verlagsgruppe – Insolvenz an. 2020 wurde ein Nachfolger gegründet, der schlicht „VZ“ hieß und sich als Gaming-Plattform etablieren sollte, was ebenfalls scheiterte. Spiele waren es bis zuletzt, die einige wenige in den VZ-Netzwerken hielten und den Betrieb finanzierten.
Aufgrund des Protests der Gaming-Community wurde das ursprünglich geplante Ende 2021 noch einmal verschoben. Nun meldet der Betreiber: „studiVZ und meinVZ werden zum 31.03.2022 abgeschaltet.“ Die Netzwerke seien technisch so veraltet, dass eine Modernisierung unwirtschaftlich sei, sagte die Chefin der VZ-Netzwerke, Agneta Binniger, dem Spiegel.
Dabei sah einst alles vielversprechend aus: 2005 wurde StudiVZ von zwei pfiffigen Studenten, Ehssan Dariani und Dennis Bemmann, gegründet. Erste Skandale ließen nicht lang auf sich warten: 2006 fanden sich 700 Männer in einer Gruppe zusammen, die „wirklich fotogene Frauen“ gemeinschaftlich bewerteten und ihre eigene „Miss-Wahl“ abhielten – kollektive sexuelle Belästigung inklusive. Zuvor stand das Netzwerk wegen der Verbreitung von „Nazi-Witzen“ in der Kritik. 2007 kritisierte der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar, dass StudiVZ personalisierte Werbung auf Grundlage der angegebenen Daten schalten will – ein Prinzip, das heute allgegenwärtig ist.
Damals war es neu
Bemmann und Dariani verkauften das Netzwerk im selben Jahr für 85 Millionen Euro an Holtzbrinck. Die Summe galt als maßlos überhöht, die Gründer hätten ihre Frührente einläuten können, entschieden sich aber für den natürlichen Lebenszyklus reich gewordener VWL- und Informatikstudierender: Dariani gründete die Gruschel GmbH und betätigte sich als Investor. Bemmann lernte Esperanto, reiste um die Welt, versuchte sich als Fashion-Fotograf und gründete ebenfalls eine Investmentplattform.
Der Einfluss der VZ-Netzwerke, von denen StudiVZ das bekannteste und beliebteste blieb, darf nicht unterschätzt werden. An Schulen, in Familien und in der deutschen Medienöffentlichkeit wurde über Privatsphäre im Netz diskutiert. „Es ist kein Mythos, dass sich Personaler das StudiVZ-Profil ausdrucken“, sagte der Kommunikationsberater Klaus Eck noch 2010 der Zeit – eine Bemerkung, die heute in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert anachronistisch klingt.
Personen nur aufgrund weniger Details „nachschlagen“ zu können, das war neu. Wer sich zuvor noch dazu durchringen musste, seinen Schwarm aus der Seminargruppe direkt anzusprechen, konnte nun einfach in „Grundlagen der Methoden empirischer Sozialforschung I WiSe 09/10“ suchen und fündig werden. Saskia war schon mal bei Rock am Ring und mag Mumford & Sons. Vielleicht hat sie ja Lust auf einen Kaffee? Oh, ihr Beziehungsstatus ist „vergeben“ – dann wohl eher nicht.
StudiVZ zeigte Freundschaften „über zwei“ oder „über drei Ecken“ an. Gut vernetzte Personen konnten dadurch wie Mikro-Celebrities (ein Begriff, den damals ebenfalls niemand kannte) wirken. Bekanntschaften wurden abstrakter und das Profil zum Ausdruck des Lifestyles, vor allem über die Gruppen. Einst zur Vernetzung gedacht, signalisierten sie schnell Zugehörigkeit, Distinktion, Humor oder das vollständige Gegenteil davon: „Ich glühe härter vor, als du Party machst“, „Kniet nieder – Wir haben Abitur in Bayern gemacht“, „Ich hab nen Tinnitus im Auge! Ich sehe nur Pfeifen!“. Kurzer Blick auf die eigene Seite: „Ich will in meinem Profil bei StudiVz möglichst geil rüberkommen“. Selbstironie im Web-2.0-Zeitalter – es war nicht alles gut.
Auf Nimmerwiedersehen
Geradezu leichtsinnig öffentlich wirkt StudiVZ rückblickend. Wer noch seine Zugangsdaten kennt, kann das nachprüfen: Verabredungen zu Partys, gern mit konkreter Zeit- und Ortsangabe, wurden öffentlich auf Pinnwänden getroffen. Fotos von Partyeskapaden verschiedenster Art waren ordnungsgemäß verlinkt, sodass noch der Letzte begriff, welcher Kommilitone auf dem verschwommenen Bild in die Spüle kotzt.
Andere soziale Plattformen gab es bei Weitem nicht so viele wie jetzt. StudiVZ konnte daher mehr sein. Es war die verlängerte Uni, Dating-Plattform, Fotoalbum, WG-Vermittlung, Mitfahrzentrale, Tauschbörse, Partykalender. Alles Schlimme und alles Schöne der neuen Normalität digital vernetzter Gesellschaften zeichnete sich hier bereits ab. Es war ein Segen für jeden, der eine verloren geglaubte Bekanntschaft wiederfand und ein Fluch für alle, die hier zum ersten Mal in Kontakt mit Stalking und Mobbing kamen. Oder Ghosting.
Von all dem sind nur noch Spuren vorhanden, und die werden nun weggewischt – ein Reset, auf den jüngere Generationen, für die Facebook, Twitter und TikTok zur Normalität gehören, bis auf Weiteres nicht hoffen können. Vielleicht sollten wir dankbar sein. StudiVZ – machs gut, auf Nimmerwiedersehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen