Student leitet Flüchtlingsheim mit: Unser Herr Philipp
In der Erstaufnahmeeinrichtung in Berlin-Wilmersdorf leben rund 800 Flüchtlinge. Das funktioniert gut, weil ein Student von Empathie nicht nur redet.
Diese Szene wiederholt sich in diesem Büro täglich unzählige Male. In der Notunterkunft im Alten Rathaus Berlin-Wilmersdorf wohnen um die 800 Flüchtlinge. Manche bleiben nur wenige Tage, andere Monate. Die Hälfte sind Syrer, dazu kommen Afghanen, Iraker, Tschetschenen. Jeden Tag arbeiten hier Hunderte Freiwillige. Noch vor einigen Wochen war Philipp Bertram einer von ihnen. Als ehrenamtlicher Aktivist konnte er sich öffentlich aufregen, der Bundespräsident halte mit seinem Besuch den Betrieb auf. Heute wird er dafür bezahlt, solche Besuche zu koordinieren.
Mit 24 Jahren ist er stellvertretender Leiter der Unterkunft, die vom Arbeiter-Samariter-Bund betrieben wird. Seinem Chef, Thomas de Vachroi, war er gleich aufgefallen. Er sagt: „Philipp hatte sofort einen besonderen Draht zu den Leuten. Jetzt muss er lernen, mit den Strukturen klarzukommen.“ Das heißt: Er muss es allen recht machen. Den Flüchtlingen, den Freiwilligen, seinem Arbeitgeber, dem Amt.
Philipp Bertram ist ein schlaksiger Typ, eleganter gekleidet als die meisten hier – gut sitzender Mantel, den er auch im Büro fast nie auszieht, Nerdbrille, adretter Pullover. Er ärgert sich über seine Haare, die lieber schräg hochstehen, als ordentlich anzuliegen. Vor ein paar Monaten noch studierte er VWL und Politikwissenschaft. Nebenher kellnerte er und jobbte als Eventmanager, engagierte sich für queere Themen. Was man eben so macht mit Anfang zwanzig.
Dann, 2015, kommt die Flüchtlingskrise. Bertram engagiert sich ehrenamtlich. Sein Studium: plötzlich nicht mehr wichtig. Warum? „Ich ertrage es nicht, dass all diese Menschen nur als Krise behandelt werden. Man muss ihnen doch Würde geben in diesem beschissenen System.“ Er hilft in Unterkünften in ganz Berlin, irgendwann auch in Dresden, wenn er dort am Wochenende seine Familie besucht. Merkt sich, was gebraucht wird, was gut funktioniert. Und steht an einem Augustmittag im Hof des leer stehenden Rathauses Wilmersdorf, kurz nachdem die Nachricht herumging, dass hier noch am selben Abend 250 Flüchtlinge einziehen sollen.
Seine Chance
Noch ist außer ihm niemand da. Er weiß: Das ist seine Chance. Endlich kann er vorne dabei sein, zeigen, was er kann, was er gelernt hat. Bei Facebook erstellt er eine Gruppe: „Freiwillige helfen in Wilmersdorf“. Ein paar Stunden später stehen 150 Helfer neben ihm auf dem Hof. Der Katastrophenschutz des Arbeiter-Samariter-Bundes rückt an, sie bauen Betten auf, schnüren Essenspakete, machen notdürftig sauber.
Um 20.20 Uhr, Bertram weiß das noch genau, fahren die Busse mit den ersten Bewohnern vor. „Seit diesem Tag“, sagt er heute, „bin ich von dem Hof nicht mehr weggekommen.“ Mittlerweile schläft er immerhin wieder regelmäßig. In den ersten Wochen fand er nachts vor Sorge um die Bewohner kaum Ruhe.
Am Nachmittag kündigt das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), das für die Registrierung der Flüchtlinge zuständig ist, plötzlich an, die Plätze in der Wilmersdorfer Unterkunft auf 900 aufzustocken. Sofort laufen die Drähte heiß: Helfer, Betten, Willkommenspakete müssen her. Abends ebenso plötzlich die Absage: Heute kommen doch keine Flüchtlinge mehr. Bertram hat seine Leute umsonst hergebeten.
Dasselbe Spielchen wiederholt sich am nächsten Tag: Ankündigung – hektische Vorbereitungen – plötzliche Absage. Philipp Bertram wirft sich in seinen Stuhl und sagt: „Die machen mich fertig. Da draußen vorm Lageso stehen Hunderte Menschen in der Kälte. Familien mit Kindern, auch nachts. Und ich darf niemanden mehr aufnehmen, obwohl ich Platz hätte!“ Die Erklärungen der Behörden sind wechselhaft.
Wenn Bertram über Situationen wie diese spricht, lässt er seine Worte oft nachhallen, blickt sein Gegenüber etwas länger an als üblich. Er erntet gern Empörung, das kann er sich noch leisten, obwohl er jetzt Hauptamtlicher ist. Aber die Vorgaben des Amtes umgehen kann er nicht. Nähme er einfach mehr Menschen auf, als Plätze bewilligt sind, drohte dem Haus die Schließung. Er muss schlucken, was ein Verwaltungsbeamter im gut geheizten Büro festlegt. Trotzdem: „Die Menschen vor der Tür stehen lassen kann ich einfach nicht.“
Wenn spät abends eine Familie dasteht, wird er wieder Aktivist. Ruft alte Mitstreiter an, andere Unterkünfte, Kontakte bei Behörden. Nervt so lange, bis die Menschen untergebracht sind. Gibt ihnen derweil etwas zu essen, Pullover aus der Kleiderkammer. Verleiht seine Thermoskanne an einen frisch gebackenen Vater, der sich später mit seinen ersten deutschen Worten auf einem Post-it bedanken wird.
Lebensmittelpunkt: das Alte Rathaus
Eigentlich wollte Philipp Bertram mal für Politiker arbeiten, vielleicht selbst einer werden. Heute kann er aus dem Stehgreif das Prozedere eines Schulantrags ebenso erklären wie einer jungen Mutter helfen, ihr Baby zu stillen, ohne dass man viel dabei sieht. „Frag mal unseren Herrn Philipp“, heißt es bei nahezu jedem Problem. Und Herr Philipp findet immer eine Lösung. Deshalb, sagt sein Chef, funktioniere das Zusammenleben hier gut: „Philipp besitzt Empathie. Die haben viele. Aber er kann auch danach handeln.“
Alles andere in seinem Alltag hat sich verändert, sein Lebensmittelpunkt ist das Alte Rathaus. Doch er achtet darauf, ab und an seine Familie zum Essen zu treffen. Als eine Kollegin in einer Zigarettenpause fragt, warum er denn nicht seinem Lebensgefährten nach Südafrika nachreise, zuckt er mit den Schultern: „Und was soll ich dann da machen?“ Früher war er in der Linkspartei aktiv, heute sagt er Sätze wie: „Die CDU tut von allen Parteien hier in Wilmersdorf am meisten für die Flüchtlinge.“
Immer wieder wollen Politiker das Heim besuchen. Bertram stellt dann eine Bedingung: nicht nur gucken, sondern auch was mitbringen. „Das hier ist kein Zoo. Wie genau sie die Hilfe organisieren, ist mir egal. Hauptsache, sie tun was.“ Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter musste 50 Betten liefern, Linken-Landeschef Klaus Lederer leistete Arbeitsstunden in der Kleiderkammer.
Jede Visitenkarte, die ein Besucher aus der Politik dalässt, wird an die große Pinnwand im Büro geheftet, gegenüber den Besucherstühlen. Auf denen sitzt dann der Nächste, schielt auf die Sammlung, wer schon alles da war – und was derjenige mitgebracht hat. Jeder will an diese Pinnwand, die anderen möglichst übertrumpfen. Bertram erzählt von einer Staatssekretärin, die ihre Visitenkarte per Post schickte, weil sie bei ihrem Besuch keine dabeigehabt hatte.
Philipp Bertram kann mit diesen Leuten umgehen, deshalb hat man ihn eingestellt. Er weiß, wie Verwaltungen funktionieren, aber er denkt nicht wie sie. Wie lange wird er es noch aushalten, Flüchtlinge nachts auf der Straße zu wissen und ein paar Stockwerke über sich ungenutzte Betten? Im Moment sagt er: „Hier passiert viel Schönes.“
Einen 16-jährigen Syrer, der als einer der Ersten hier einzog und sich abends oft das Heimweh nach seinen Eltern bei Bertram von der Seele redet, nennt er „kleiner Bruder“. Und vor wenigen Tagen wurde hier wieder ein Kind geboren. Philipp Bertram zeigt stolz ein Foto auf seinem Handy: „Unser neues Baby“. Natürlich wird er Patenonkel.
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