Streit um Umgang mit Gewalt in Israel: Armee stellt sich gegen die Regierung
Das Militär drängt auf vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber Palästinensern. Menschenrechtsaktivisten kritisieren „Straßenhinrichtungen“.
Die Zahl der bislang getöteten Palästinenser stieg am Donnerstag bei einer versuchten Messerattacke und der Erschießung eines 51-Jährigen aus Dschenin, der über 100 Personen angegriffen hatte. Die Menschenrechtsorganisation Betselem protestierte gegen die „Hinrichtungen auf offener Straße“. In einem offenen Brief an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kritisierten die Menschenrechtler die Regierung, die „die Transformation von Polizeibeamten und sogar bewaffneten Zivilisten in Richter und Henker ermutigt“.
Die Ansicht der Armee, dass vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber der palästinensischen Führung zumindest Teil einer Lösung sein müssten, widerspricht der auch von Netanjahu vertretenen Haltung, die Attentate hätten nichts mit dem Siedlungsbau und dem Stillstand der Friedensgespräche zu tun.
„Terrorismus in Paris, Jerusalem und überall auf dem Globus wird genährt von dem gleichen Hass und der gleichen extremistischen Ideologie, die darauf abzielt, unsere Zivilisation und unsere Werte zu zerstören“, zog Jerusalems Bürgermeister Nir Barkat jüngst einen Bogen zwischen dem Terror in seiner Stadt und der Attentatsserie in Paris.
Als kontraproduktiv bezeichnete hingegen die linke Menschenrechtsaktivistin Naomi Chasan die Gleichstellung des „Islamischen Staates“ (IS) mit den palästinensischen Messerattacken. Es sei ein „Irrglaube“, man könne gegen beide mit den gleichen Mitteln angehen.
„Begrenzter Aufstand“
Als „begrenzten Aufstand“ bezeichnen die Militärs neuerdings die seit Anfang Oktober andauernde Gewaltwelle, die lautHa’aretz „noch Monate weitergehen und in eine breit angelegte Revolte eskalieren kann“. Das liberale Blatt beruft sich dabei auf einen „hohen Offizier des Zentralkommandos“. Die Regierung hat bereits eine Serie neuer Antiterrormaßnahmen beschlossen, darunter verschärfte Straßenkontrollen und Reisebeschränkungen, Verhaftungen und Strafmaßnahmen gegen die Familienangehörigen von Attentätern. Verteidigungsminister Mosche Jaalon strebt zudem den Bau weiterer Trennanlagen an.
Zum ersten Mal wird Kritik aus der israelischen Bevölkerung an den „Hinrichtungen“ der oft noch minderjährigen palästinensischen Attentäter laut. Am Dienstag zeigten israelische Medien Bilder, die einen Wachmann zeigen, wie er auf zwei bereits am Boden liegende Palästinenserinnen schießt. Eine der beiden war erst 14, die zweite, 16 Jahre alt, starb vor laufender Kamera.
Die Menschenrechtsorganisation Betselem protestierte gegen diese „pseudonormative Realität“, die das „Schießen, um zu töten“ vorschreibe, selbst dann, wenn von dem Verdächtigen keinerlei Gefahr mehr ausgehe. Betselem erinnerte daran, dass die Todesstrafe in Israel schon vor Jahrzehnten abgeschafft wurde, und dokumentiert nun fünf Fälle, wo auf minderjährige Angreifer, „die bereits neutralisiert worden waren“, geschossen wurde. Vier von ihnen starben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann