Streit um Teilnehmerzahlen: Die Polizei dürfte recht haben
Die Polizei zählt 17.000, die Veranstalter über eine Million Menschen bei der „Querdenken“-Demo. Wer ist näher dran? Eine Nachrechnung.
Die Zahlen: Laut Polizei waren „in der Spitze“ 17.000 Menschen bei der Demonstration, für die Kundgebung im Tiergarten nennt sie später 20.000 Teilnehmer. Die Veranstalter sprachen auf der Bühne bei der Kundgebung im Berliner Tiergarten erst von 800.000, dann von 1,3 Millionen Menschen. Bei Twitter wurde aus dem Umfeld der DemonstrantInnen mehrfach behauptet, die 800.000 seien von der Polizei bestätigt worden. Die Polizei wies dies explizit zurück: „Eine exorbitant höhere Zahl, die laut verschiedener Tweets durch uns genannt worden sein soll, können wir nicht bestätigen“, schrieb sie auf Twitter.
Die Vergleiche: Wäre eine Menge von einer Million Menschen zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule denkbar? Am selben Ort fand in den 90er Jahren die Loveparade statt, bei der die Veranstalter für das Rekordjahr 1999 sogar 1,5 Millionen TeilnehmerInnen nannten. Auch für die bis heute regelmäßig stattfindende Silvesterfeier am Brandenburger Tor nannten die Veranstalter lange Zeit eine Teilnehmerzahl von einer Million.
Der Flächentest: Die Silvester in Berlin GmbH hat mal angegeben, dass die Veranstaltungsfläche 80.000 Quadratmeter groß sei. Da wurden offenbar aber die Ausweitungen rund um das Brandenburger Tor und die Siegessäule miteinberechnet. Mit Tools wie Mapchecking lässt sich sehr leicht belegen, dass die Fläche der Straße des 17. Juni auf dem Abschnitt nicht einmal 55.000 Quadratmeter beträgt.
Der Bildvergleich: In den Sozialen Medien wurden vor allem Fotos geteilt, die von der Spitze der Siegessäule Richtung Brandenburger Tor eine dicht gedrängte Menge zeigen. Solche Fotos wurden von Pressefotografen der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters veröffentlicht. Vergrößert man diese Fotos, erkennt man aber schnell, dass die Straße des 17. Juni keineswegs auf der gesamten Länge von 1,7 Kilometern dicht bevölkert ist. Im Gegenteil sind sehr große Lücken zu erkennen. Zudem sieht man, dass die Menschen auf den meisten Abschnitten nicht dichtgedrängt, sondern sehr locker stehen oder sitzen. Auch ein vom rechtsextremen Koch Attila Hildmann verbreitetes Selfie-Video, das ihn mitten in der Menge von angeblich „1,3 Millionen“ zeigt, verdeutlicht, dass dort im Schnitt maximal ein Mensch auf vier Quadratmeter kommt. An vielen Ecken sind es sogar deutlich weniger.
Das realistische Ergebnis: Selbst wenn man von einer Fläche von 80.000 Quadratmetern ausginge, käme man somit nur auf maximal 20.000 Menschen bei der Abschlusskundgebung. Realistisch dürften es noch deutlich weniger gewesen sein, da die Fläche ja viel kleiner war. Rechnet man den Veranstaltern aber zugute, dass gar nicht alle TeilnehmerInnen bis zur Abschlusskundgebung mitgelaufen sind, klingt die Schätzung der Polizei mit 20.000 DemonstrantInnen einigermaßen realistisch.
Und was ist mit der Loveparade und den Silvesterfesten? Die Angaben stammten auch hierbei jeweils von den Veranstaltern. Sie dürften aber ebenfalls stark übertrieben sein. Zwar zeigen Fotos der Loveparade 1999, dass damals die Straße des 17. Juni im Tiergarten weitaus voller war, als an diesem Samstag. Eine Million werden es dennoch nicht gewesen sein. Ein Gutachter, der den Hergang der Loveparade 2010 in Duisburg untersucht hat, hatte anhand von Fotos errechnet, dass dort, wo 21 Menschen im Gedränge starben, acht bis zehn Feiernde pro Quadratmeter gewesen waren. Würde man 1,3 Millionen Menschen auf die 55.000 Quadratmeter zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule packen, wären das weit mehr als 20 Menschen pro Quadratmeter. Mit anderen Worten: Es hätte hier aller Wahrscheinlichkeit nach viele Tote gegeben.
Das Fazit: Massen bei Demos wirken in der Regel deutlich größer als sie scheinen. Mit Zoomobjektiven aufgenommene Fotos aus der Luft belegen selten die wahre Größe der Menge, sondern verzerren sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour