Streit um Neutralitätsgebot: Legal, illegal, nicht neutral
In Sachsen fürchten zivilgesellschaftliche Projekte mit politischer Haltung um ihre Förderung. Ein Gutachten sagt nun: Sie müssen nicht neutral sein.
Berlin/Freiburg taz | Zivilgesellschaftliche Organisationen dürfen auch dann die AfD kritisieren, wenn sie staatlich gefördert werden. Zu diesem Schluss kommt der Mainzer Rechtsprofessor Friedhelm Hufen in einem Gutachten, das an diesem Mittwoch in Dresden vorgestellt wurde und das der taz vorliegt.
Anlass von Hufens Gutachten war ein Sonderbericht des sächsischen Landesrechnungshofs aus dem März 2024. Der Rechnungshof kritisierte dabei die Förderung von Projekten für „integrative Maßnahmen“ für Flüchtlinge und Migrant:innen als „in einem hohen Maße rechtswidrig“. Die Auswahlkriterien seien unklar gewesen. Fachlich geeignete Projekte hätten keine Gelder bekommen, während Projekte gefördert wurden, die dem sächsischen Sozialministerium von Ministerin Petra Köpping (SPD) politisch nahestünden.
Umstritten waren vor allem die Ausführungen des Rechnungshofs zur Neutralität. Danach dürfe das Ministerium seine eigene Verpflichtung zur politischen Neutralität nicht dadurch umgehen, dass es zivilgesellschaftliche Gruppen finanziere, die dann andere Parteien auf eine Art und Weise angriffen, die dem Ministerium verboten wäre. Die geförderten Vereine und Projekte bildeten außerdem, so der Rechnungshof, „nicht die Vielfalt des Meinungsspektrums“ ab. Politische Bildung und politischer Lobbyismus würden nicht sauber getrennt.
Das sächsische Sozialministerium hatte eingeräumt, dass manche „Zuwendungsempfänger“ die Projektarbeit nicht ausreichend von ihrer sonstigen Vereinstätigkeit unterschieden und „Fördermittel in unzulässiger Weise für ihre politische Arbeit verwendet haben“. Das Ministerium selbst habe aber keinen Einfluss auf den Parteienwettbewerb genommen. Die geförderten Projekte hätten „ausschließlich integrationspolitische Zielsetzungen“ gehabt.
Mangelnde Kompetenz
Die sächsische Zivilgesellschaft war jedoch alarmiert und sah eine Gefahr für die Förderung von gesellschaftspolitischen Projekten weit über die Integration von Flüchtlingen hinaus. So entstand die Idee, ein Gutachten zum Sonderbericht des Rechnungshofs in Auftrag zu geben, insbesondere zu dessen Ausführungen zum Neutralitätsgebot. Finanziert wurde es im wesentlichen von der Cellex-Stiftung des Kölner Medizintechnik-Unternehmens Cellex. Unterstützt wurde es von der Amadeu-Antonio-Stiftung, der Freudenberg-Stiftung und der Schöpflin-Stiftung.
Rechtsprofessor Hufen zweifelt zunächst die Kompetenz des Rechnungshofs an, sich überhaupt zur Auslegung des Neutralitätsgebots zu äußern. Dies gehe über seine Aufgabe hinaus, die Haushalts- und Wirtschaftsführung des Freistaats Sachsen zu prüfen. Der Rechnungshof habe durch seine einseitige Stellungnahme selbst seine Pflicht zur Neutralität verletzt.
Aber auch inhaltlich lehnt der Rechtsprofessor die Prämissen des Rechnungshofs ab. Das Neutralitätsgebot hält er für überholt, relevant sei eher ein Gebot der sachlichen Auseinandersetzung. Jedenfalls seien zivilgesellschaftliche Organisationen nicht zur Neutralität verpflichtet, auch wenn sie staatliche Fördergelder erhielten.
Das Ministerium müsse bei der Auswahl der zu fördernden Projekte auch nicht die gesamte Vielfalt des politischen Spektrums berücksichtigen, so das Gutachten, sondern dürfe sich auf politisch nahestehende Initiativen konzentrieren. Organisationen, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgten (er nennt dabei nicht die AfD) oder sonst wichtige Verfassungswerte ablehnten, müssten ohnehin nicht finanziell gefördert werden.
Kritik, aber sachlich
„Was dürfen wir denn noch machen, Erbsen zählen und Nachhilfe geben?“
Der Rechnungshof, so die Kritik von Hufen, wende das Neutralitätsgebot viel zu formal an. Zu berücksichtigen seien auch andere Verfassungswerte, etwa das Prinzip der wehrhaften Demokratie, das den Einsatz gegen Feinde der freiheitlich demokratischen Grundordnung verlange. Eine Trennung zwischen politischer Bildung und politischem Engagement sei künstlich.
Aus diesen eigenen Prämissen leitet Hufen Empfehlungen für das Verhalten von staatlich geförderten zivilgesellschaftlichen Initiativen ab. So könnten sie in ihrer Arbeit durchaus auch politische Parteien kritisieren. Sie müssten dabei aber sachlich bleiben; NS-Vergleiche hält Hufen für unsachlich.
Bei Veranstaltungen müssten grundsätzlich alle relevanten Parteien eingeladen werden, außer dies widerspreche dem Ziel der Veranstaltung. So müssten zu einem Europafest keine Europagegner eingeladen werden. Aufrufe zu Boykottmaßnahmen, ja selbst zu Gegendemonstrationen, müssten staatlich geförderte Projekte unterlassen, so Hufen.
Mit dem Gutachten hätten sie und die anderen beteiligten Stiftungen mehrere Punkte klären wollen, sagt Eva Sturm von der Cellex-Stiftung: Wann und wie das Neutralitätsgebot zu interpretieren und wer dafür eigentlich zuständig sei. Sie beobachte deutschlandweit eine „verunsicherte Zivilgesellschaft“, so Sturm: „Es wird massiv darum gestritten, wie das Neutralitätsgebot ausgelegt werden sollte, es wabert da herum und die Träger der Demokratiearbeit fragen sich: Was dürfen wir überhaupt sagen? Da wollten wir eine verfassungsrechtliche Klarstellung.“
Freie Träger unter Druck
Der Rechnungshof habe sich „sehr weit aus dem Fenster gelehnt – seine Auslassungen zum Neutralitätsgebot sind geradezu übergriffig“, so Sturm. „Die inhaltliche Prüfung ist nicht die Aufgabe des Rechnungshofs.“ Das Gutachten arbeite nun heraus: „Politische Arbeit und politische Bildung, der Einsatz für Demokratie, das kann nicht neutral sein.“ Beim Schutz von Minderheiten müssten „demokratiegefährdende Tendenzen wie Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus oder Homophobie benannt werden dürfen – ebenso wie jene, von denen diese Gefahr ausgeht“.
Auch Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen begrüßt das Gutachten. Es gebe „Sicherheit – nicht nur für die freie Trägerlandschaft in Sachsen, sondern bundesweit“. Viele freie Träger seien durch den Sonderbericht des Rechnungshofs unter Druck geraten, so Nattke. So sei die Förderrichtlinie des sächsischen Sozialministeriums entsprechend angepasst worden. „Besonders die Punkte zur politischen Neutralität müssen nun dringend wieder rückgängig gemacht werden.“
So sieht es auch Mamad Mohamad, Co-Vorsitzender der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO) wie auch Geschäftsführer des Landesnetzwerks der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (Lamsa). „Sollte die Auslegung des Rechnungshofs Bestand haben, wäre die Arbeit aller Verbände von einem Tag auf den anderen nicht mehr fortsetzbar“, sagt er. „Was dürfen wir denn dann noch machen, Erbsen zählen und Nachhilfe geben?“
Auftrag in der Satzung
Gemeinnützige Organisationen seien auf Förderung angewiesen. Die Debatte um das Neutralitätsgebot und seine Interpretationsspielräume versetze Träger in der Demokratiearbeit „nicht nur in Sorge, sondern in Panik“.
Die Verbände vor Ort entstünden in Reaktion auf konkrete Anlässe, häufig als Reaktion auf bestehende Missstände. „Ihre Satzungen verpflichten sie, die Interessen spezifischer Gruppen zu vertreten, darunter Migrant*innen, Geflüchtete und Menschen mit Behinderung“, so Mohamad. „Politische Arbeit kollidiert per se mit der von Rechnungshof angeführten Definition von Neutralität. Die Arbeit für Demokratie, also für Teilhabe, Gleichberechtigung oder Selbstbestimmung, kann folglich nicht als neutral bezeichnet werden.“
Ob das sächsische Sozialministerium der Auffassung des Gutachtens folgen wird, ist allerdings unklar. Auf Anfrage der taz wollte sich das Ministerium nicht äußern.
Leser*innenkommentare
elektrozwerg
"Danach dürfe das Ministerium seine eigene Verpflichtung zur politischen Neutralität nicht dadurch umgehen, dass es zivilgesellschaftliche Gruppen finanziere, die dann andere Parteien auf eine Art und Weise angriffen, die dem Ministerium verboten wäre."
Die Gretchenfrage ist, ob man dem zustimmt oder nicht. Wenn nicht, dann hat sich das Neutralitaetsgebot tatsaechlich ueberholt.
"Fachlich geeignete Projekte hätten keine Gelder bekommen, während Projekte gefördert wurden, die dem sächsischen Sozialministerium von Ministerin Petra Köpping (SPD) politisch nahestünden."
Steuergeld wird genutzt, um parteinahe NGOs und Vereine zu subventionieren, unabhaengig von deren fachlichen Qualifikation. In der Wirtschaft nennt man sowas Veruntreuung und Vetternwirtschaft.
Frauke Z
Das ist ja äußerst praktisch für die AfD:
Kurz vor ihrer allerersten, zumindest theoretischen Chance auf Regierungsbeteiligung bestätigt ein Gutachten, dass sie dann ihr "politisch nahestehende Initiativen" mit Staatsgeld fördern darf.
Wenn solches Vorgehen schon nicht rechtswidrig ist - was ich stark bezweifle, so geht es doch gegen jeden politischen Anstand und Vernunft.
Jalella
"Der Rechnungshof kritisierte dabei die Förderung von Projekten für „integrative Maßnahmen“ für Flüchtlinge und Migrant:innen als „in einem hohen Maße rechtswidrig“."
Wenn ich das so lese und an die AfD denke, bekommt das Wort "rechtswidrig" irgendwie was Positives.
DiMa
Was ist von jemandem zu erwarten, der das Neutralitätsgebot für überholt hält?
Richtig relevant wird der Artikel erst, wenn die AFD Regierungsbezeiligung innerhalb hat und anfängt, ihre eigenen Vorfeldorganisationen mit Steuergeldern zu finanzieren. Ob dann die Sache mit dem Neutralitätsgebot im er noch so locker gesehen wird?
Egal wie man es dreht, nach meiner persönlichen Meinung sollten sich staatlich finanzierte Organisationen mit Kritik an Parteien zurück halten. Eine kritische Auseinandersetzung mit Einzelpositionen ist davon ausdrücklich nicht betroffen.
tomás zerolo
Man fühlt sich an VVN-BDA und Campact erinnert, wo auch Finanzbehörden aus eigenem Antrieb und recht robust in die politische Debatte reingrätschen.
Lauter kleine Maaßens, dort?