Streit um Neubauprojekt in Pankow: Nicht in meinem Garten
Berlin wächst. In elf Großbauprojekten sollen 40.000 neue Wohnungen entstehen, auch dort, wo schon Leute wohnen. Etwa in Blankenburg in Pankow. Ein Besuch.
Gleich hinter der Haustür hängt ein Schild: „Tritt ein in unser liebes Haus und zieh die Straßenschuhe aus.“
Gerald Rabsch leuchtet mit einer großen Taschenlampe in ein kleines Kabuff seines engen Flurs mit der niedrigen Decke und zahlreichen Urkunden aus der Zeit, als er noch Marathonläufer war.
„Hier konnte man noch lang die Einschusslöcher sehen“, sagt er mit schüchterner Stimme, „aber jetzt sind sie wohl mit Tapete überklebt.“ Im Mai 1945 hatte sich Gerald Rabschs Tante mit der Tochter in einem Kriechkeller unter der Küche nebenan versteckt und einen Teppich über die Luke geschoben. Die sowjetischen Soldaten fanden nichts und ballerten ein paar Mal in die Wände dieses Hauses im Buschsperlingsweg an der Panke, in der Erholungsanlage Blankenburg, in der der gelernte Koch Gerald Rabsch geboren und aufgewachsen ist.
Schon sein Großvater, ein Ofensetzer, kam als Siedler, um hier zu leben. In den Siebzigern übernahm Rabsch die Laube von der Tante. „Wir haben nach der Wende viele Jahre 14 Stunden am Tag gearbeitet, um den Garten zu kaufen und das Haus auszubauen“, erzählt Anneliese Rabsch, Gerald Rabschs Frau. Bis vor vier Jahren haben sie das Bistro STEP’ke geführt, in der Neumannstraße, nicht weit weg vom U-Bahnhof Vinetastraße. Bis sie 68 war und er 72. Dann konnten sie nicht mehr.
Das Ehepaar läuft in seinem Häuschen herum, zeigt voller Stolz ein schmuckes, modernes Bad, Nut-und-Feder-Bretter in der Küche, den neuen Ausgang vom Arbeitszimmer in den kleinen Garten, wo jetzt Schneeglöckchen und Krokusse blühen. Sie erzählen viel von den Kranichen und Reihern im Baum vorm Haus, vom Karpfenteich um die Ecke, auf dem man gerade noch Schlittschuh fahren konnte. Und von den vielen Besuchen der vier Kinder, sechs Enkel, zwei Urenkel – auch der Nachbarn. „Wir wüssten nicht, wohin mit uns“, sagt Anneliese Rabsch. Denn seit zwei Wochen fürchten sie, dass sie werden weichen müssen.
Anneliese und Gerald Rabsch besitzen eins der 1.360 Grundstücke auf 84 Hektar Erholungsanlage Blankenburg. Die Menschen hier wussten, dass es um sie herum Bebauung geben würde. Es gab ein Bürgerbeteiligungsverfahren, über zwei Jahre lang.
Doch am 3. März dann eine „Auftaktarena“ mit 700 Besuchern in Buch. Dort war plötzlich nicht mehr nur von 5.000 bis 6.000 Wohnungen auf den 70 Hektar Acker gegenüber die Rede, den ehemaligen Rieselfeldern. Nun hieß es, hier sollen bis 2035 rund 10.000 Wohnungen entstehen – eine ganze neue Kleinstadt für etwa 20.000 Einwohner. Und zwar auch in der Erholungsanlage, in der die beiden bislang leben.
Am Tisch des Vereinsheims der Erholungsanlage sitzen weitere Bewohner und die Vereinsvorstände der Erholungsanlage, Ines Landgraf und Gerd Thießen. Überall hängen Transparente herum, von der letzten Plakataktion. Auf einem steht „Endlich Rente – Endlich umziehen?“, auf einem anderen „Enteignung? Nein danke!“
Ines Landgraf, die selbst in Blankenburg eine Parzelle 99 Jahre nach Erbbaurecht gepachtet hat, erklärt die verzwickte Lage. Diese Erholungsanlage war mal eine Kleingartenkolonie, wollte aber nach der Wende raus aus deren Gesetzgebung. Nur so konnten Menschen hier kaufen – und legal wohnen.
Wie in allen der 1.600 Erholungsanlagen Berlins und Brandenburgs, die der Verband Haus- und Wohneigentum Siedlerbund Berlin-Brandenburg (VHWE) zählt, gibt es auch in Blankenburg Mischnutzung: etwa 900 Mieter und Erholung suchende Pächter, die ihre Lauben nur zeitweise nutzen, dazu 400 Erbbaupächter und Eigentümer. Bis 2022 sind die 900 Mieter und Pächter in der Anlage noch sicher – durch den Investitionsschutz, der bis dahin gilt. Danach kann ihnen der Eigentümer, das Land Berlin, jährlich kündigen.
Die 400 Eigentümer und Erbbaupächter müssten dagegen entschädigt werden. Landgraf legt das Papier des Stadtentwicklungssenats auf den Tisch. In verschiedenen Varianten werden alternative Vorschläge gemacht, in je drei Entwicklungsphasen.
In allen drei heißt es: „In den Erholungsanlagen wird die derzeitige Nutzung langfristig aufgegeben zugunsten eines Wohngebiets. Für die bisherigen Nutzerinnen und Nutzer, deren Grundstücke von der Umgestaltung betroffen sind, werden im Dialog mit ihnen sozial verträgliche und individuelle Ersatzangebote erarbeitet.“
Landgraf war bei der Bürgerversammlung in Buch dabei. Sie erinnert sich, wie die Emotionen hochkochten, wie von Wortbruch, Täuschung, Verarschung die Rede war. Seitdem hat sie mit ihren streitlustigen Vereinsmitgliedern, die lange um ihr Wohnrecht kämpften und sich seit der Bürgerversammlung oft treffen, vermutlich ähnlich viel zu tun wie Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) mit der Presse.
Bisher wurde Lompscher scharf kritisiert, zu wenig zu bauen. Doch seit der Bürgerversammlung in Buch fliegt ihr der Spott um die Ohren. Ausgerechnet das Thema Bürgerbeteiligung hat sie vergeigt, das sie wie kaum eine andere im Senat zur Herzensangelegenheit erklärte. Doch alles Zurückrudern, alle Beschwichtigungen aus ihrem Haus, es sei „noch nichts in Stein gemeißelt“, lenken nicht ab vom Problem.
Das Problem ist: „Sozialverträgliche Ersatzangebote“ dürften schwierig werden, wenn es um Menschen geht, die in der vierten Generation in einer 109 Jahre alten Erholungsanlage leben. In einer Erholungsanlage, in der schon Hungernde nach dem Ersten Weltkrieg Zuflucht fanden. Ausgebombte nach dem Zweiten Weltkrieg. In der sich Menschen ein funktionierendes Dorfleben aufgebaut haben, die sie sich sonst niemals ein Haus hätten bauen können.
Der Blankenburger Süden könnte paradigmatisch für zehn weitere Großbaupläne des Senats stehen. Berlin braucht Wohnungen, das ist klar. Aber was passiert mit den Anwohnern an den Rändern Berlins, die den neuen Bewohnern weichen müssen? Und die sich, selbst viel weiter draußen, längst nichts mehr leisten könnten?
Die Nerven liegen blank in der Erholungsanlage, aber die Nerven liegen auch blank um die Erholungsanlage herum. Auch hier gibt es Probleme, wenn sie vielleicht auch nicht ganz so drängend sind wie in der Erholungsanlage.
Ein Dorfanger, der besser erhalten ist als viele um Berlin herum: Es gibt eine Kirche, ein griechisches Restaurant, sogar noch einen Bauernbetrieb, eine Apotheke. Trotzdem muss, wer hier spazieren geht und Gespräche sucht, die Stimme heben. Der Durchgangsverkehr ist die Hölle. Auf dem Dach eines Hauses hängt noch immer ein Wahltransparent der AfD.
Kein Blankenburger weit und breit, der gerade gut auf Katrin Lompscher zu sprechen wäre.
Keiner, der den neuen Bauplänen offen gegenüberstände. „Viel Verkehr kommt aus Karow. Da haben sie in den Neunzigern auch so ein Wohn-Ufo auf die grüne Wiese gestellt – ohne jede Verkehrsanbindung“, schimpft eine Frau in den Vierzigern, die gerade auf der Terrasse eines Eiscafés einen Capuccino trinkt. „Ich habe gehört, die M2 soll durch die neue Siedlung fahren, bis zum S-Bahnhof Blankenburg“, erzählt ein Mann in den Fünfzigern beim Bier. „Wie soll denn, bitte schön, eine einzige Tram für eine ganze Kleinstadt reichen?“
Zum Hintergrund: Die M2 müsste durch ein anderes Wohngebiet – Pankower Tor – mit 1.500 Wohnungen auf 40 Hektar Land in der Nähe führen, das seit neun Jahren auf Realisierung wartet. Gerade überlegt Pankows Bezirksbürgermeister Sören Benn (Linke), ob man dem zögerlichen Investor, Möbelkönig Kurt Krieger, das Bauland wieder wegnehmen könnte.
Auch die Menschen, die im alten Dorf und den umliegenden Einfamilienhaussiedlungen leben, denen es nicht so direkt an den Kragen geht, haben das Gefühl, dass die Stadtplaner sich mit ihrem Ort bislang wenig beschäftigt haben. Dass sie und ihre Bedürfnisse übergangen werden – wie seit eh und je.
Martin Runge von der Arbeitsgruppe Stadtentwicklung Blankenburg bringt es auf den Punkt. Er braucht die Probleme, die bislang nicht einmal in den Planungen auftauchen, nur anzureißen. Zum Beispiel soll endlich eine Tangentialverbindung kommen, die bereits Anfang der Neunziger geplant wurde. Nur weiß noch keiner, wo sie hinführen könnte. Geschweige denn, ob sie als Entlastungsstraße fürs Dorf taugen würde.
Was wird plattgemacht, damit der anvisierte Betriebsbahnhof für die Tram kommen kann? Wie könnte ein alter Dorfkern von 20.000 neuen Anwohnern profitieren? Kann man Leute dazu kriegen, nicht für jeden Einkauf ins Auto zu steigen?
Zurück in der Erholungsanlage. Selbst die schlimmsten Gegner von Laubenpieperkultur müssten zugeben: Hier ähnelt kein Haus dem anderen. Ein Verschlag wirkt wie ein russisches Holzhaus. Eins hat blaue Dachziegel, eins rote Fensterläden. Es gibt Bastler mit Holzlagern im Garten, Freunde getrimmter Hecken, andere nutzen ihren Grund für die größtmögliche Anzahl von Kinderspielgeräten.
Anders als in klassischen Kleingärten, wo es bis zu Anzahl der angebauten Mohrrüben Vorschriften gibt, geht es hier lustig und bunt zu, drunter und drüber. Jeder, der hier wohnt, hat mit seinen kleinen Mitteln ein Stück vom Paradies erobert.
Das Ehepaar Rabsch (siehe Seite 41) hat das so gemacht. Michael Opitz hat das auch so gemacht. Der sportliche, große Mann, der Anfang 50 ist, bewegt sich von März bis Oktober nur auf einem königsblauen Motorrad durch die Stadt. Er arbeitet im Müllheizkraftwerk der BSR in Spandau. Nun lehnt er am Zaun seines kleinen gelben Einfamilienhäuschens mit Satteldach im Purpurkardinalweg, in dem er mit seiner Familie wohnt, und erklärt den Garten. Da der Pferdemist, da die Hochbeete. Hier der Salbei, dort der alte Pflaumenbaum. Tomatenhaus, Gurkenhaus.
Drin, auf einer karierten Küchenbank mit Blick auf den Garten, erzählt er, wie sie zum Haus gekommen sind: durch einen privaten Wohnungstausch wie Ende der Achtziger üblich, als Wohnungen rar waren in der DDR. Gleich nach der Wende kauften sie es – genau auf dieselbe Art also wie das Ehepaar Rabsch im Buschsperlingsweg, inklusive gerichtlicher Auseinandersetzungen. Das Gesetz, das dies erlaubte, heißt Sachenrechtsbereinigungsgesetz. Opitz kaufte das Land zur Hälfte des damaligen Verkehrswertes von Bauland.
Nun hat Opitz allen Grund zu großer Sorge. Er hat gehört, der Senat bewerte das Land in der Erholungsanlage derzeit gar nicht als Bauland, sondern nur als Acker. Er hat gehört, dass Menschen blitzschnell geräumt werden können, wenn eine Gegend zum Entwicklungsgebiet erklärt wird. „Dies wird im Augenblick geprüft“, bestätigt die Pressestelle des Senats für Stadtentwicklung.
Große Teile des Hauses hat Michael Opitz selbst gebaut. „Ich wüsste nicht, wie man das bewerten soll“, sagt er. Und es spricht Kampfgeist aus seiner Stimme, mit dem Katrin Lompscher noch zu tun bekommen könnte.
Leute wie die Opitz und Rabsch hätten unter anderen Umständen niemals bauen können. Sie könnten sich heute, in der wachsenden Stadt, auch sehr viel weiter draußen kein Häuschen mehr leisten. Und: Sie haben sich einen Lebensstil, eine Kultur aufgebaut, wie es woanders nicht möglich gewesen wäre. Wie es sie woanders nicht gibt.
400 Personen, die hier leben. 900 weitere, die hier manchmal leben. 20.000, die hier gern leben würden.
Die Familie Opitz und die Familie Rabsch kann man enteignen. Entschädigen kann man sie nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Sicherheitsleck in der JVA Burg
Sensibler Lageplan kursierte unter Gefangenen