Streit um Legalisierung: Cann-noch-a-bissl dauern
Das Cannabisgesetz sei ein Bürokratiemonster, sagen zumindest die Justizministerien der Länder und wollen es im Bundesrat aufhalten. Was dran ist.

Das Cannabisgesetz tritt eventuell doch nicht wie geplant am 1. April in Kraft. Damit werde ein „Bürokratiemonster“ erschaffen, das die Justiz massiv überlasten werde, warnen die Justizministerien der Länder und wollen das Gesetz über den Bundesrat aufschieben. Ist die Lage wirklich so schlimm?
Richtig ist:
Die von der Bundesregierung geplante Cannabislegalisierung soll auch rückwirkend gelten, das sei eine Frage der Gerechtigkeit begründet Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Amnestieregelung. Daher muss die Justiz bisherige Straffälle prüfen und manche Strafen zurückziehen, mildern oder bei einer Kombination von Straftaten eine neue Gesamtstrafe festlegen. Dabei geht es um nicht vollstreckte Fälle, bei denen die Haft- oder Geldstrafe noch nicht angetreten oder fertig abgesessen wurde.
Bei den Haftentlassungen rechnet die Regierung mit maximal 7.500 Prüffällen. Der Deutsche Richterbund geht von insgesamt 100.000 zu überprüfenden Akten aus. Die Amnestieregelung wird auf Landesebene über Parteigrenzen hinweg kritisch gesehen.
Die Berliner Staatsanwaltschaft rechnet für ihren Bereich mit rund 3.500 zu überprüfenden Verfahren. Der Justizminister aus Nordrhein-Westfalen sogar mit mindestens 60.000. Das könnte ihrer Rechnung nach Monate dauern und viel Personal binden. Wenn das Gesetz wie geplant Anfang April käme, stelle das die Thüringer Staatsanwaltschaft „vor kaum lösbare Probleme“, sagte auch der Erfurter Oberstaatsanwalt Hannes Grünseisen.
Allerdings kommt das Gesetz nicht über Nacht. Der Aufwand für die Justiz sei vorhersehbar gewesen, sagen der Cannabis Social Club und die Neue Richtervereinigung. „Es wäre also möglich – und geboten – gewesen, Vorkehrungen für den Gesetzeserlass zu treffen“, erklärt Letztere. Verschiedene Staatsanwaltschaften haben bereits im November 2023 begonnen, die entsprechenden Fälle zu prüfen. So glauben etwa Hessen und Hamburg, den Stichtag einhalten zu können, auch wenn es ein enormer Kraftaufwand gewesen sei.
Kompliziert, wenn Straftaten zusammenfallen
Dass die Funktionsfähigkeit der Justiz in Gefahr sei, hält Simon Pschorr, Staatsanwalt in der Neuen Richtervereinigung, für abwegig. Staatsanwält*innen müssten ohnehin, bevor sie einen Verurteilten auffordern, seine Strafe anzutreten, prüfen, ob Vollstreckungshindernisse bestünden. Oft ließe sich die Strafe leicht anpassen. Kompliziert wird es, wenn verschiedene Straftaten gemeinsam verurteilt wurden. Zum Beispiel, wenn bei einem Diebstahl beim Tatverdächtigen auch Cannabis gefunden wurde.
Und ein bisschen hätte sich die deutsche Justiz das selbst eingebrockt, wäre sie schon digitalisiert, „wären vollstreckungsfähige Urteile durch Textverarbeitungssoftware automatisch durchsuchbar“, kritisiert Pschorr im Interview im Spiegel.
Auf der anderen Seite sollte die Justiz entlastet werden. Die Bundesregierung rechnet mit weniger Cannabis-Verfahren und dadurch einem Einsparpotenzial bei den Gerichten von rund 225 Millionen Euro jährlich. In Deutschland fallen mehr als die Hälfte, 2022 etwa 60 Prozent, der Rauschgiftdelikte auf Cannabis zurück.
Ob Cannabis ab 1. April legal sein wird? Sowohl aus dem Justiz-, Gesundheits- und Innenausschuss des Bundesrates werden Änderungsempfehlungen für die Abstimmung am 22. März eingereicht. Die Anrufung des Vermittlungsausschusses ist zunehmend wahrscheinlicher.
Um noch einen zeitigen Gesetzesstart zu ermöglichen und einen Vermittlungsausschuss zu verhindern, erwägt nun das Bundesjustizministerium eine Verzögerung der Amnestieregelung um sechs Monate für Fälle, die bisher strafbar, aber künftig erlaubt sind. Vielleicht einen Kompromiss.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Der Jahrestag der Ukraine-Invasion
Warum Russland verlieren wird
Wahlsieg der Union
Kann Merz auch Antifa?
Sieger des rassistischen Wahlkampfes
Rechte Parolen wirken – für die AfD
Alles zur Bundestagswahl
Oma gegen rechts hat Opa gegen links noch nicht gratuliert
Alles zur Bundestagswahl
Lindner und die FDP verabschieden sich aus der Politik
Nach der Bundestagswahl
Jetzt kommt es auf den Kanzler an