piwik no script img

Streit um HeimerziehungWieder Kinder wegschließen?

Der Hamburger Senat will ein Heim für 9- bis 13-Jährige bauen, das teilweise geschlossen sein soll. Fachleute halten das für eine schlechte Idee.

Noch wächst hier am Klotzenmoorstieg nur Gras. Nach Wunsch der Heim-Kritiker soll das so bleiben Foto: AKS-Hamburg

Hamburg taz | Geschlossene Unterbringung sei schlecht. „Das wird auch nicht besser, wenn man es in Hamburg das dritte Mal versucht.“ Mit diesen Worten schloss Christian Schrapper, der ehemalige Vorsitzende der Enquete-Kommission „Kinderrechte stärken“ am Freitag eine Tagung an der Uni Hamburg ab. Sie hatte den Titel: „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim“ – denn Hamburg droht wieder ein Rückfall in alte Zeiten.

Acht Jahre schon lebt die Stadt ohne ein solches Heim, auf das der Titel anspielt. Damals wurden die Haasenburg-Heime in Brandenburg dichtgemacht, die Hamburg kräftig mitnutzte. Nun soll es wieder ein Heim in der Stadt geben, so wie Anfang der 2000er die Feuerbergstraße. Auf einer Wiese am Klotzenmoorsteig nahe des Flughafens startet im Frühjahr 2025 der dritte Versuch.

Laut der Bau-Ausschreibung sollen drei oder vier Gebäude so zueinander stehen, dass ein „geschützter Innenhof-Charakter“ entsteht. Bei der Planung seien neben Geborgenheit Sicherheitsaspekte wichtig. Das erinnert an den Atrium-Hof der Feuerbergstraße, in dem die Eingeschlossenen frische Luft bekamen.

Geplant ist die Einrichtung für Kinder zwischen neun und 13 Jahren, die dort bis zu zwei Jahre bleiben. Laut einer Präsentation der Sozialbehörde sei sie „hochstrukturiert“ und führe „je nach Einzelfall auch freiheitsentziehende Maßnahmen“ durch. Es gebe drei Phasen: Clearingphase, Entwicklungsphase, Verabschiedungsphase. Doch da Freiheitsentziehung nur für die erste Phase und nur personenbezogen geplant sei, wäre es kein geschlossenes Heim.

Im Grünen-Wahlprogramm von 2015 hieß es, man lehne „geschlossene Heime in der Jugendhilfe ab“. Auch im Wahlprogramm 2020 fand sich dieser Passus. Allerdings mit der Betonung, man lehne solche Heime für „delinquente“ Kinder und Jugendliche ab. Da aber zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie Kinder häufig wanderten, wolle man die Zusammenarbeit verbessern.

In den Koalitionsgesprächen zimmerte Rot-Grün daraus dann den Plan für das neue Heim, für Kinder mit „herausfordernden Entwicklungsverläufen“, die – so heißt es in einem Papier – nicht in ihre „Herkunftssysteme“ zurück können, bevor sie neues Verhalten erlernen.

Schon vor Wochen warnte der Alternative Wohlfahrtsverband Soal, so ein Heim widerspreche den Kinderrechten. Auch fehle der Beleg, dass es diese Zielgruppe gebe.

Eine weitere Frage ist: Wieso wird im Jahr 2022 noch mit dem sogenannten Phasenmodell geplant? Weiß man doch aus früheren Heimen, dass Kinder in solchen Anfangsphasen oft viel zu lange verweilen. Sogar der Deutsche Ethikrat positionierte sich im Herbst 2018 kritisch: Derlei Konzepte, bei denen „regelkonformes Verhalten“ durch Aufstieg in die nächste Phase belohnt und „regelwidriges Verhalten“ durch Abstieg in eine weniger privilegierte Phase bestraft wird, seien „nicht zu rechtfertigen“. Sie führten zu Ohnmacht und Resignation.

Die Antwort der Sozialbehörde: Es sei falsch, dass Kinder sich Freiheiten in Phasen verdienen müssen. „Dies ist in der Einrichtung ausdrücklich nicht geplant.“ Die drei Phasen beschrieben nur „zeitliche Abläufe wie in jeder anderen Einrichtung auch“.

Die grüne Jugendpolitikerin Britta Herrmann sieht das genauso; es handle sich hier um ein „Missverständnis“. Alle Phasen könnten in bis zu zwei Jahren durchlaufen werden „orientiert an der individuellen Situation des Kindes“.

Unter den 150 Fachleuten, die sich am Freitag auf Einladung des Aktionsbündnisses gegen geschlossene Unterbringung und des Arbeitskreises kritische soziale Arbeit zur Tagung trafen, herrschte allerdings Ablehnung. Ohne Gegenstimme wurde ein Appell an den Senat verabschiedet, auf den Klotzenmoorstieg zu verzichten. Psychisch erkrankte Kinder bräuchten Hilfen, aber keinen „harten Ausschluss“ in Spezialeinrichtungen.

Grüne wollen Opposition einbinden

In dem Workshop, der sich mit dem Klotzenmoorstieg befasste, nannte eine Sozialarbeiterin den Plan, Neun- bis 13-Jährige einzusperren, gar „ein Verbrechen“. „Der Lackmustest ist, ob dort der Übergang von einer zur nächsten Phase doch am Verhalten des Kindes gekoppelt ist“, sagte Workshop-Leiter Timm Kunstreich. Kritisch sei auch, dass die Kinder intern beschult und zwei Jahre aus ihrem Umfeld rausgerissen würden. „Die meisten Betroffenen wollen so normal leben wie alle anderen auch“, sagte die frühere Jugendpsychiaterin Charlotte Köttgen.

Soal schlägt derweil Alternativen vor: Mitarbeiter der regulären Jugendhilfe wünschten sich zum einen psychologische Sprechzeiten in Wohngruppen, etwa um Mitarbeitende zu entlasten. Außerdem seien Notschlafstellen in externen psychiatrischen Einrichtungen sinnvoll, falls die anderen Kinder mal eine „Auszeit“ bräuchten. Dafür, sowie für weitere therapeutische Angebote, könnte man die geplanten Häuser nutzen.

Die Grünen tun nun etwas Ungewöhnliches. Ein neues Gremium, bestehend aus den Obleuten des Familienausschusses, soll die Entwicklung des pädagogischen Konzeptes begleiten. Damit wären die Fachsprecher der Opposition, die gern kritische Anfragen stellen, eingebunden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • 4G
    47261 (Profil gelöscht)

    "Kritisch sei auch, dass die Kinder intern beschult und zwei Jahre aus ihrem Umfeld rausgerissen würden. Die meisten Betroffenen wollen so normal leben wie alle anderen auch“, sagte die frühere Jugendpsychiaterin C. Köttgen. Das stimmt. Aber Tatsache ist, dass Kinder, die sich zum Beispiel massiv selbst gefährden/verletzen zur Zeit meistens gar nicht mehr zur Schule zu gehen. Eine therapeutische Wohngruppe für diese Kinder zu finden, ist auch schwer, von "normal leben" ganz zu schweigen, weil die Normalos sie gar nicht akzeptieren. Nicht wenige wandern direkt von der Psychiatrie in den Kinder/Jugendnotdienst und nicht in ihr Umfeld. Schulen schaffen es auch, diese Kinder loszuwerden. Manche erleben Dauerschleifen in Krisenwohngruppen unterbrochen von kurzen Einlieferungen in die Psychiatrie. Damit will ich jetzt nicht für geschlossene Unterbringung sprechen. Aber der Artikel wirkt so, als hätte weder die Autorin noch die, die dort zu Wort komen, irgendwie Ahnung, wovon sie sprechen...."Auch fehle der Beleg, dass es diese Zielgruppe gebe."....Sorry! Wenn man mit dieser Zielgruppe, also Kinder, die zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie wandern, nichts zu tun hatte, sogar ihre Existenz in Frage stellt, wieso meint man sich dann äußern zu dürfen? Die Versorgung von Kindern nach einem Psychiatrieaufenthalt ist katastrophal. Vor allem von Kindern, die in der Jugendhilfe sind. Wohngruppen nehmen sie nicht auf, Schulen weisen sie ab, sie werden ins Ausland geschickt und dann gibt es noch die sogenannten "niedrigschwelligen" Angebote, die den Bedürfnissen der psychisch kranken Kinder nicht gerecht werden und eigentlich als staatlich (gut) finanzierte Verwahrlosung bezeichnet werden können. Es muss sehr dringend was passieren. Es fehlen Gelder, Projekte, aber anscheinend auch die Bereitschaft, das Thema überhaupt ernst zu nehmen. Ob es -so was wie am Klotzenmoorsteig geplant ist- sein muss, ist fraglich. Aber es braucht dringend adäquate Angebote der Jugendhilfe.

    • Kaija Kutter , Autorin des Artikels, Redakteurin taz-Hamburg
      @47261 (Profil gelöscht):

      Ich zitiere hier aus der Soal-Stellungnahme, die in meinem Artikel auch verlinkt ist:



      „Den im Koalitionsvertrag (…) beschriebenen Kindern und Jugendlichen mit speziellem pädagogischen und psychiatrischen Betreuungsbedarf begegnen Sozialarbeiter*innen in ihrer täglichen Praxis immer wieder. Aus Perspektive der Mitarbeiter*innen in stationären Einrichtungen ist das größte Problem im Umgang mit diesen Kindern die schwierige Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Sie fühlen sich oft fachlich alleine gelassen in ihrem Bestreben, die Kinder und Jugendlichen in ihren Besonderheiten zu begleiten.“

      Und weiter: „Fachlich gibt es bis jetzt keine Studien, die verlässlich belegen, dass es sich bei den hier beschriebenen Kindern und Jugendlichen um ‚andere’ Kinder und Jugendliche handelt, als die in stationären Settings bereits betreuten. Viel eher ist von unterschiedlichen ‚Zuweisungsmechanismen‘ und Falleinschätzungen, divergierenden Erfahrungen und unterschiedlichen, fachlichen Schwerpunkten der zuweisenden Fachkräfte auszugehen.“

      Sodann führt der Alternative Wohlfahrtsverband in seiner Stellungnahme aus, dass, „wenn es hochstrukturierte Einrichtungen gibt, diese auch belegt werden. Wenn es diese nicht gibt, werden andere Lösungsmöglichkeiten gefunden“.

      Hierzu sei in Hamburg zum Beispiel seit 2014 die „Koordinierungsstelle“ für schwierige Fallverläufe gegründet worden, die seither recht erfolgreich arbeite und hilft, bei problematischen Fallverläufen, „multiperspektivisch zu begleiten“.

      Eine Erweiterung dieses Konzeptes für alle Bezirke mit fallbegleitenden Aufträgen und Ressourcen wäre möglich. „Eine gesonderte Einrichtung wäre dann überflüssig“, schreibt der Wohlfahrtsverband und macht noch weitere Vorschläge.

      Nachzulesen ist dies auf dessen Homepage.

  • Da haben die 'Fachleute wieder mal recht! Denn gewalttätige Kinder darf man nie einsperren - man muss sie auf die Menschen loslassen. Ansonsten werden sie ja frustriert, wenn man ihr Hobby einschränkt.

    • @fvaderno:

      Man darf nach Jugendrecht sehr wohl Jugendliche ab 14 Jahren ins Gefängnis stecken und selbst da gilt das Jugendrecht und die Beleuchtung der Hintergründe der Kinder ist beim Strafmaß ein enorm wichtiger Teil, denn es geht vorangig gar nicht um Strafe.

      Und selbst wenn ein sogenanntes "schwererziehbares" oder "verhaltensauffälliges Kind" in ein Gefängnis kommt, sind sie dort weniger Schikane ausgesetzt. In der Regel sitzt man seine Zeit dort ab und das wars. Gut, Ausnahmen gibt es.



      Was nicht geht ist, dass man wirtschaftlich orientierte Unternehmen hat, die Ersatzgefängnisse zur Verfügung stellen, das dem Steuerzahler teuer zu stehlen kommt und letzten Endes wenig bis gar nichts erreicht wird.

      Unsere Gesellschaft muss das ertragen können. Es sind Kinder.



      Und was "Gewalt" ist - siehe Haasenburg - wird gerne mal frei ausgelegt. So kann es in solchen Einrichtungen schon eine Begründung sein mehrere Tage am Bett fixiert zu sein, wenn man widerspricht. Hat man erstmal die Stigmatisierung des Systemsprengers und kommt in ein geschlossenes Heim, ist man diesem System schutzlos ausgeliefert.

      Und "Gewalt" als "ihr Hobby" zu bezeichnen empfinde ich als zutiefst menschenverachtend. Was haben sie denn für ein Menschenbild, dass sie diese Art der Unterbringung mit so einem - entschuldigen sie - Blödsinn (!) rechtfertigen?!

  • Wäre gut ein paar exemplarische Fälle zu nennen und auch die möglichen Maßnahmen zu konkretisieren. Ich kann mir aktuell nicht viel darunter vorstellen.



    Einsperren von Kindern bereitet mir Bauchschmerzen, aber das so etwas nie notwendig ist, glaube ich auch nicht…