Streit um Flüchtlingspolitik: Zerruttung in den Niederlanden
Nach dem Rücktritt der Regierung bringen sich die Parteien für Neuwahlen im November in Stellung. Droht ein weiterer Rechtsruck?
Mit einem Mal ist das Land also im Wahlkampfmodus. Damit rückt auch die BoerBurgerBeweging (BBB) in den Fokus, die Protestpartei, die im März mit einem Erdrutschsieg die Provinzwahlen gewann. Vor der unerwarteten Kabinettskrise vergangene Woche lag sie gemeinsam mit Ruttes rechtsliberaler Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) an der Spitze der aktuellen Umfragen. Dass sie für eine neue Koalition unter Ruttes Leitung nicht zur Verfügung steht, hat die BBB bereits deutlich gemacht.
Caroline van der Plas, Gründerin und bislang einzige Abgeordnete der BBB, sagte am Wochenende, der Fall der Regierung komme für ihre Partei zu einem günstigen Moment. Über den kommenden Wahlkampf mache man sich keine Sorgen. „Wir kommen gerade aus einem Wahlkampf und werden wieder die gleiche Geschichte erzählen.“ Der rasante Aufstieg der BBB basiert vor allem auf der weitverbreiteten Abneigung gegen die etablierte Politik in Den Haag. Die Partei, konservativ und zugleich mit sozialer Agenda, hält sich von der rechtsextremen Agitation anderer Populist*innen fern, was sie für breite Wähler*innenschichten attraktiv macht.
Sozialdemokraten und Grünlinke planen gemeinsame Liste
Eine unvorhergesehene Dynamik gab es am Wochenende auch im linken Teil des politischen Spektrums. Dort erhält die seit Längerem geplante Zusammenarbeit zwischen der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid (PvdA) und GroenLinks durch die plötzliche Aussicht auf Parlamentswahlen frischen Wind. Schon im Frühjahr hatten beide im Vorfeld der Provinzwahlen zusammengearbeitet, im neu formierten Senat bilden sie eine gemeinsame Fraktion. Mittelfristig wird auch eine Fusion diskutiert.
Am Sonntag machten beide Parteien auf einer Pressekonferenz bekannt, dass sie im Herbst mit einer gemeinsamen Kandidat*innenliste antreten und auch zusammen ein Wahlprogramm aufstellen wollen. Wer an der Spitze einer solchen Liste stehen wird, konnten sie noch nicht sagen. Zunächst bekommen nun die Mitglieder in der kommenden Woche die Möglichkeit, online über dieses Vorhaben abzustimmen. Die Mehrheit der jeweiligen Basis befürwortet eine Zusammenarbeit.
Attje Kuiken, die Chefin der PvdA, sprach die Hoffnung auf „ein linkes Kabinett“ und „einen linken Premier“ aus. Ihr GroenLinks-Pendant Jesse Klaver kündigte an, man wolle 2023 zu einem „Wendepunkt“ machen. Für einen solchen allerdings bräuchten beide ein neues Momentum. In langfristigen Umfragen liegen PvdA und GroenLinks nämlich zusammen bei kaum mehr als 15 Prozent der Stimmen.
Wilders bereit für eine Regierungsteilnahme
Auch im Rest der Opposition drängt man auf möglichst schnelle Neuwahlen. Geert Wilders, Chef der rechtspopulistischen Freiheitspartei (PVV) und beständiger Kritiker der Mitte-rechts-Regierung Ruttes, sagte, man habe „jeden Tag dafür gekämpft, dass das Kabinett aufhört“. Seine Partei, derzeit die stärkste Kraft in der Opposition, sei bereit für eine Regierungsteilnahme. Dass Wilders, einst der Paria im Parteienspektrum, Ruttes VVD als möglichen Koalitionspartner nicht ausschloss, zeigt, wie sehr sich das politische Klima der Niederlande in den vergangenen Jahren nach rechts verlagert hat.
„Die PVV ist die geeignete Partei, um dafür zu sorgen, dass eine Mehrheit entsteht, um den Asylzustrom stark einzuschränken“, so Wilders weiter. Wenn es Rutte damit ernst sei, müsse er auch „Butter bei die Fische tun und mit Parteien wie meiner zusammenarbeiten“. Genau danach freilich sieht es nach den hektischen Ereignissen der Vorwoche aus: Dass Rutte auf Drängen seiner Partei seine Koalitionspartner*innen unter Druck setzte, den Familiennachzug zu beschränken, erklärt sich aus ebenjenem Diskurs, der die Niederlande seit einem Jahr im Griff hat und sich auf ein einziges Ziel reduzieren lässt: weniger Asylbewerber*innen.
Breite Mehrheit befürwortet Asylstopp
Die nächtelangen Verhandlungen, die dem Fall der Koalition vorausgingen, könnten dabei ein Vorgeschmack sein auf den Wahlkampf, der den Niederlanden nach einer kurzen Sommerpause bevorsteht. Dass das Thema Asyl darin eine bedeutende Rolle spielen wird, ist offensichtlich. Dass die VVD sich dazu bereits in Stellung gebracht hat, ebenfalls. Die Einschätzung, die Niederlande seien „voll“ und bräuchten einen „Asylstopp“, also eine Art vorübergehende Sperre für neu ankommende Geflüchtete, trifft in der Bevölkerung auf breite Zustimmung und findet nicht zuletzt in der VVD Gehör.
Zunächst aber wird das Parlament noch einmal über den Rücktritt der Koalition diskutieren. Am Montagmorgen kommen die Abgeordneten dazu aus der eigentlich am Freitag begonnenen Sommerpause zurück nach Den Haag. Angesichts zahlreicher Themen, die in der kurzen Regierungszeit des Kabinetts Rutte IV sehr kontrovers diskutiert wurden, dürfte es dabei zu intensiven Auseinandersetzungen kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin