Streit um EU-Personalie Selmayr: „Auf Trump'sche Art geleugnet“
Die Anhörung zum Fall des Deutschen Martin Selmayr im Europaparlament gerät zur Abrechnung mit der Kommission – und ihrem Vertreter Oettinger.
Ganz ruhig bleiben, ausgesprochen höflich antworten, das Europaparlament loben: Nach dieser Devise antwortete EU-Kommissar Günther Oettinger am Dienstag in Brüssel auf die Fragen der EU-Abgeordneten im „Fall“ Martin Selmayr. Der deutsche Jurist Selmayr sei hochqualifiziert für sein neues Amt als Generalsekretär der Brüsseler EU-Behörde, so Oettinger. Seine Berufung sei nach den Regeln der Kommission verlaufen, beteuerte der CDU-Politiker.
Doch die Beruhigungs-Taktik hat nicht verfangen. Schon die Vorsitzende des Haushaltskontroll-Ausschusses, die deutsche CDU-Politikerin Ingeborg Gräßle, ließ ihr Misstrauen durchblicken. Bei Selmayrs Blitz-Beförderung an die Spitze der mehr als 30.000 Mitarbeiter starken EU-Behörde Anfang März habe Kommissionschef Jean-Claude Juncker ein „Überraschungsmoment“ genutzt, sagte sie gleich zum Beginn der Anhörung. „Niemand fühlt sich ernst genommen“, fügte sie hinzu.
Damit war der Ton gesetzt. Die Anhörung wurde zur Abrechnung. Ein Jahr vor der Europawahl im Frühsommer 2019 ist die EU-Kommission in der Defensive.
Die 80-seitige Antwort, die Oettinger vor der Anhörung am frühen Sonntagmorgen vorgelegt hatte – „pünktlich zur Umstellung auf die Sommerzeit“, witzelte der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold – hat niemanden im Parlament überzeugt. Auch Oettingers erstes Plädoyer für Juncker und Selmayr konnte die Zweifel nicht ausräumen. Er kenne Selmayr schon seit acht Jahren, sagte der auch fürs Personal zuständige deutsche Haushaltskommissar. Er habe die „gefestigte Überzeugung“, dass Selmayr für sein neues Amt „hochqualifiziert“ sei.
Von „Putsch“ und „Vetternwirtschaft“ ist die Rede
Doch das ist gar nicht die Frage. Die Selmayr-Affäre kreist um die handstreichartige Beförderung des CDU-nahen ehemaligen Bertelsmann-Lobbyisten – und um die Art und Weise, mit der Juncker und Selmayr die Kommission führen. Von „Putsch“ und „Vetternwirtschaft“ ist die Rede, es geht um Transparenz und Vertrauen. Selmayrs Beförderung schade der Glaubwürdigkeit der EU, klagen die Abgeordneten in der Anhörung, die auch über das Schicksal Junckers entscheiden könnte. „ Wenn er (Selmayr) geht, gehe ich auch“, hatte Juncker am vergangenen Donnerstag gedroht. Seither ist es auch seine Krise.
„Der Schaden ist enorm, der Ruf der Kommission ernsthaft beschädigt“, empört sich der niederländische Europaabgeordnete Gerben-Jan Gerbrandy von den Liberalen. Die umstrittene Beförderung vergleicht er mit einem „Theaterstück, das dem Drehbuch von Juncker und Selmayr folgt“. Doch statt dies endlich einzuräumen, „wird es auf fast Trump’sche Art und Weise geleugnet“. Das immerhin lockt Oettinger für einen Moment aus der Reserve. „Trump ist uns in der Kommission wesensfremd, in der Haarfarbe und in anderem“, gibt er zurück.
Doch die Attacken gehen weiter. „Das Kollegium von Kommissaren besteht aus lauter Ja-Sagern“, kritisiert der belgische Grünen-Abgeordnete Bart Staes. Die Kommissare hätten stutzen müssen, als Selmayr binnen weniger Minuten vom Kabinettschef Junckers zum stellvertretenden Generalsekretär der Kommission und dann auch noch zum General befördert wurde, meint er. „Es hat sie kalt erwischt und dann stimmen sie dem Diktat von Juncker zu.“
Oettingers Antworten fallen defensiv aus. „Von einem Diktat würde ich nicht sprechen“, schließlich hätten alle zugestimmt. Auch Selmayrs Amtsvorgänger sei ohne Ausschreibung ernannt worden. Doch auf die Frage, warum es diesmal keine Gegenkandidaten gegeben habe, weiß er keine Antwort. Oettinger kann auch nicht erklären, wieso Juncker und Selmayr ihn, den Personal-Verantwortlichen, erst in letzter Minute eingeweiht haben.
Gelächter für Oettingers Ausflüchte
Nach zwei Stunden voller Ausflüchte werden seine Antworten mit Gelächter quittiert. Da wird klar, dass Oettinger nicht überzeugen kann. Die Selmayr-Affäre bleibt eine schwere Hypothek für die EU-Kommission. Juncker hatte sein Team 2014, gegen Ende der Eurokrise, als „Kommission der letzten Chance“ angekündigt – nun steckt sie selbst in der Krise.
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