Streit um Bildungspläne in Hamburg: „Unterricht wie vor 100 Jahren“
Die Vereinigung der Stadtteilschulleiter fordert, die neuen Bildungspläne zu stoppen. Die Entwürfe enthielten zu viel vergängliches Faktenwissen.
taz: Herr Witting, Hamburg plant Bildungspläne, die mehr auf verbindliche Inhalte setzen. Was ist schlecht daran?
Thimo Witting: Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen. So steht es im ‚OECD Lernkompass 2030‘. Aber die hier vorgelegten Bildungspläne folgen einem veralteten Grundsatz aus einer Zeit, als es darum ging, Wissen in die Köpfe der Schüler zu bringen. Das hilft uns nicht für die Herausforderungen von morgen: nämlich Probleme zu lösen und sie mit unseren Emotionen zu verbinden.
Wofür belohnt uns die Welt denn?
Dafür, dass wir unsere zukunftsfähigen ‚21st Century Skills‘ trainieren, auch vier Ks genannt. Dass wir kompetente, demokratische, soziale Bürger sind, die kollaborativ arbeiten, die kreativ sind, die miteinander in Kommunikation stehen.
Aber ist Basiswissen nicht sinnvoll? Zum Beispiel wissen, was der 30-jährige Krieg war?
Geschichte ist ein gutes Beispiel. Es ist wichtig, dass Schülerinnen und Schüler lernen, was eine Revolution ist, wie sie entsteht und was die Gründe und Ursachen für Revolutionen in der Welt sind und waren. Sie müssen das Prinzip einer Revolution verstehen, um daraus Handlungsmuster abzuleiten. Wir können aber nicht mehr die Zeit damit verbringen, Jahreszahlen auswendig zu lernen und jede Revolution durchzugehen.
Aber den Überblick über die Jahrhunderte sollten wir schon haben, oder nicht?
Ja.
Thimo Witting
45, ist Sprecher der Vereinigung der Schulleiter:innen der Hamburger Stadtteilschulen im Verband der Schulen des gemeinsamen Lernens (GGG) und Schulleiter der Stadtteilschule Bergedorf.
Sie sprechen für die Gemeinschaft der Schulleitungen an Stadtteilschulen. Warum wollen Sie diese Pläne stoppen?
Weil die Bildungspläne einer grundlegenden Überarbeitung bedürfen. Unsere Kritik ist mit der von vielen anderen Organisationen – etwa der Elternkammer – fast deckungsgleich. Das vergängliche Faktenwissen darf nicht mehr in dieser Fülle Bestandteil der Bildungspläne sein. Es raubt Zeit, die die Schüler benötigen, um sich die notwendigen Kompetenzen anzueignen.
Was heißt Faktenwissen?
Totes Wissen, was in den Kopf der Schüler transferiert wird, wo aber keine Anknüpfung in der Art stattfindet, dass die einen Sinn darin entdecken. Wir müssen sinnvolles Lernen in den Mittelpunkt stellen.
Und solch totes Wissen steckt in den Entwürfen?
Ja. Es war ein Teil des 2019 in Hamburg neu geschlossenen Schulfriedens, sogenannte ‚Kerncurricula‘ zu schreiben, in dem Grundwissen aufgeschrieben wird. Nur passiert ist jetzt eine totale Ausweitung von vergänglichem Faktenwissen. Es hätte das Gegenteil passieren müssen.
Wie funktionieren denn die gültigen Hamburger Pläne?
Die aktuellen Bildungspläne tragen zwar eine Kompetenzorientierung in sich. Aber es gibt dennoch seit Jahren Konsens, dass sie entrümpelt werden müssten. Auch jetzt haben sie eine große Inhalts-Überfrachtung.
Sie sind nicht allein. Es hagelt gerade Kritik: Von Gymnasialschulleitern, Professoren, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, den Elternräten der Stadtteilschulen, Teilen der Politik…
Ja. Und nahezu alle Stellungnahmen weisen in die gleiche Richtung. Diese Bildungspläne gehen davon aus, dass wir eine homogene Schülerschaft haben. Alle sollen das Gleiche lernen, und zwar gemessen an Inhalten. Aber das Lernen muss viel stärker individualisiert werden. Die diverse Gesellschaft muss im Lernen abgebildet werden.
Für Aufregung sorgt, dass Schulsenator Ties Rabe (SPD) die Bewertung von mündlicher und schriftlicher Arbeit von 60 zu 40 auf 50 zu 50 verschiebt und Klausurersatzleistungen streicht. Wie finden Sie das?
Der Ansatz ist falsch. Es müssten Stärken-orientierte Bildungspläne sein. Alle Schülerinnen und Schüler sollten ihre Stärken ausspielen können. Jene, die gut schreiben können, sollen ganz viel schreiben und sich dort auch beweisen, um dann auch vielleicht in anderen Bereichen Kompetenzen zu entwickeln. Und jene, die gerne Theater spielen, sollen das gerne tun. Schule muss flexibel die Stärken unterstützen.
Es müssen nicht alle das gleiche Raster erfüllen?
Genau. Der eine ist im Theaterspielen stärker, der andere im Schreiben. Für alle zu 50 Prozent das Schriftliche zu werten, ist Unterricht wie vor 100 Jahren.
Rabe nennt als Grund, Hamburgs Schüler hätten eine Schwäche beim Schriftlichen. Man dürfe sich nicht ‚wegmogeln‘. Stimmt das?
Wir betrachten Lernfortschritte individuell. Schreiben lernt man nicht durch Klausuren, sondern indem man sich ganz kreativ mit Sprache und Schrift auseinandersetzt und ganz viele Ausdrucksformen hat. Das ist ein Lernprozess und kein Prüfungsprozess.
Aber bestimmte Standards im Bezug auf Schreibfähigkeiten sollte es doch geben?
Das sind aber nicht die einzigen Standards. Sich auszudrücken hat viele Facetten. Die Rechtschreibung wird gern als Beispiel genommen, ist aber nur eine Facette. Es gibt ganz viele Ausdrucksformen, etwa Argumentieren spielt eine Rolle, kreative Worte finden, einen Wortschatz haben. Was nützt ein schlecht argumentierter Text, der aber lupenrein geschrieben ist?
Die Elternkammer fürchtet, dass künftig weniger Schüler den Ersten oder Mittleren Abschluss oder Abitur schaffen. Teilen Sie diese Sorge?
Also, wir wollen, dass die Potenziale aller Schülerinnen bestmöglichst geweckt werden. Und das ‚alle‘ ist dabei sehr zentral. Für Chancengerechtigkeit brauchen wir sehr individuelle und an Stärken orientierte Lernzugänge. Und den Zugang – da teile ich die Sorge – erreicht man nicht nur durch Konfrontation mit den Defiziten.
Rabe sichert zu, all die Stellungnahmen würden in seiner Behörde angeschaut und bis August ein neuer Entwurf verfasst. Ist das kein gangbarer Weg?
Nein. Wir möchten, dass die doch sehr massive und flächendeckende Kritik politisch aufgenommen wird. Wir erwarten einen Vorschlag, wie mit Beteiligung derjenigen, die sich hier sehr sachkundig und intensiv mit den Themen auseinandergesetzt haben, eine grundlegende Überarbeitung der Bildungspläne geschieht. Und zwar nicht nur eine Kosmetik. Da erwarten wir einen Vorschlag, damit nicht Politik an den Menschen vorbei gemacht wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit