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Streit um Antisemitismus-DefinitionScharfe Kritik an den Rechercheuren

Die Nichtregierungsorganisation RIAS will Antisemitismus bekämpfen. Eine Studie wirft ihr nun fehlende Transparenz und diffuse Begrifflichkeiten vor.

Benjamin Steinitz, geschäftsführender Vorstand von RIAS Foto: Stefan Boness

Berlin taz | Der Historiker Moshe Zimmermann hielt am 27. Januar 2020, dem Holocaust-Gedenktag, im Landtag in Magdeburg eine Rede. Zimmermann, geboren 1943, ist Kind jüdischer Deutscher, die vor den Nazis geflohen waren. 2005 war er Mitglied der Historikerkommission, die die NS-Geschichte des Auswärtigen Amts erforschte. Zimmermanns Rede in Magdeburg reflektierte den Aufstieg des Nationalsozialismus und endete mit dem Appell, dass „Nie wieder“ nicht auf Deutschland begrenzt sein dürfe, eine universelle Bedeutung habe und auch für Israel gelte.

Zimmermanns nachdenkliche Ansprache vor dem Parlament in Sachsen-Anhalt fand sich erstaunlicherweise in dem jährlichen Bericht von RIAS, der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, wieder. Die Rede sei „antisemitisch, weil sie eine Gleichsetzung ‚der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser_innen mit der antisemitischen Politik des Nationalsozialismus‘ nahelegen würde“.

Das ist nicht trivial. RIAS, 2015 gegründet, ist in Deutschland eine anerkannte Institution. Die Nichtregierungsorganisation hat Einfluss. Sie veröffentlicht jährlich Zahlen über Antisemitismus, die Medien und PolitikerInnen als glaubwürdige, gesicherte Quelle zitieren. Der Berliner Senat benutzt RIAS-Zahlen, als würde es sich um eine amtliche Statistik handeln. Die Antisemitismusbeauftragten in Bund, Ländern und Kommunen arbeiten oft mit RIAS-Daten.

Der israelische Journalist Itay Mashiach hat eine 60 Seiten umfassende kritische Studie verfasst. Fertig war der Bericht zwar schon im Mai 2024 – wegen des brutalen Überfalls der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde die Studie aber zunächst zurückgehalten. Seit Freitagnacht ist sie nun online.

Diffuse Begrifflichkeiten

Das zentrale Ergebnis: Die Arbeit von RIAS sei intransparent, überbetone „israelbezogenen Antisemitismus“ und unterschätze rechtsextreme Aktivitäten. So führte die Organisation „in Thüringen nur 37 Prozent der antisemitischen Vorfälle auf einen ‚rechtspopulistischen/rechtsextremen Hintergrund‘ zurück, wohingegen die Polizei 98 Prozent der erfassten antisemitischen Straftaten der rechten Szene zuordnete“.

Die Studie listet eine Reihe von Fällen auf, die zeigen, dass RIAS mit einem diffusen, oft zu weit gefassten Begriff von Antisemitismus arbeitet. So werden zwei Theaterstücke, Oliver Frljić’ „Ein Bericht für eine Akademie“ und „Die Vögel“ in München, in RIAS-Berichten als antisemitische Ereignisse gewertet. Bei Frljić gilt als antisemitisch, dass in einem Text der Holocaust mit Massentierhaltung verglichen wird.

In dem Stück „Die Vögel“ wertet RIAS als Indiz für Antisemitismus, dass in dem Stück ein israelischer Politiker fordert, „die Mörder, die unsere Nation angegriffen haben, auszurotten'“. Israel werde damit, so RIAS, als „unmenschlich“ gezeigt. Allerdings haben israelische PolitikerInnen durchaus ähnliche Töne angeschlagen. Es reicht offenbar, in einem künstlerischen Produkt ungünstig wirkende Äußerungen von israelischen PolitikerInnen zu paraphrasieren, um als antisemitisch zu gelten.

Das ist, so die Studie, kein Einzelfall, sondern ein struktureller Defekt. RIAS rubriziere Ereignisse als antisemitisch, ohne den Kontext zu beleuchten. RIAS beruft sich auf die IHRA-Definition, der KritikerInnen vorwerfen, Antisemitismus zu vage zu bestimmen und es der israelischen Regierung zu ermöglichen, Kritik an ihrer Politik pauschal als antisemitisch abzuwehren.

Kaum zu überprüfen

RIAS vervielfältige, so die Studie, die Schwäche der IHRA-Definition, weil es auch die in der IHRA-Definition geforderte „Berücksichtigung des Gesamtkontexts“ ignoriere. Dies sei besonders problematisch, weil die Fälle nur anonym in den RIAS-Berichten auftauchen und die Klassifizierung als antisemitisch somit schwer überprüfbar ist.

Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Antisemitismusbekämpfung und der Übernahme von der Narrativen der israelischen Rechten. So führte RIAS Thüringen als Beispiel, das die Betonung auf israelbezogenen Antisemitismus plausibel machen sollte, eine Äußerung des früheren Jenaer Bürgermeisters Albrecht Schröter (SPD) an. Der hatte sich 2017 gegen die israelische Besatzung im Westjordanland gewandt und eine Kennzeichnung von Produkten aus israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten gefordert.

Wie weit die Immunisierung Israels vor Kritik mitunter geht, illustriert der Bericht von RIAS Bayern 2021. Dort heißt es: Wer von „Apartheid“, „Kolonialismus“ oder „ethnischen Säuberungen“ rede, unterstelle „Israel schwerwiegende Verbrechen, die es nicht begeht“. Diese Vorwürfe seien „antisemitisch, weil Israel damit dämonisiert und als illegitim gebrandmarkt wird“. Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, ob Apartheid oder Kolonialismus angemessene Beschreibungen sind – sondern, ob sie automatisch als Zeichen für Antisemitismus gelten.

Mashiach hat die Studie für die Organisation DiasporaAlliance erstellt, eine internationale Organisation, die „progressive jüdische Netzwerke fördert“ und unter anderem von der Schriftstellerin Eva Menasse und dem Philosophen Omri Boehm unterstützt wird. Die Studie umfasst den Zeitraum bis zum September 2023. Sie sollte damals veröffentlicht werden.

RIAS schweigt zur Kritik

Allerdings schien eine Publikation der DiasporaAlliance nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 nicht angebracht. Angesichts der Eskalation in Nahost und der „spürbaren Zunahme feindseliger Handlungen gegenüber jüdischen Personen und Gemeinden“ in Deutschland hielt man den Bericht zurück.

Von RIAS gab es gegenüber der taz auf Anfrage keine Stellungnahme. Der Pressesprecher von RIAS ließ offen, ob und wann sich die Organisation zu der Studie äußert.

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21 Kommentare

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  • Es ist fatal, wenn RIAs auf Nachfragen nicht antwortet. Das macht deren Statistik nur unglabwürdig.

  • Zum 40köpfigen "Advisory Board" der "Organisation DiasporaAlliance" gehört mit Amos Goldberg, Omri Boehm, David Feldman, Alon Confino, Eva Menasse, Francesca Klug, Lila Corwin Berman, Marianne Hirsch, Michael Rothberg, Peter Beinart, Santiago Slabodsky, Stefanie Schüler-Springorum, Susan Neiman und Valentina Pisanty ein signifikanter Anteil zu den Unterzeichnern der JDA. diasporaalliance.co/



    Das sollte man zumindest auch wissen, denn es bestimmt ja offensichtlich die Blickrichtung. Das ändert nicht unbedingt etwas daran, dass manche der kritisierten Beispiele tatsächlich schwachsinnig sind, kann man aber nicht der IHRA-Definition anlasten.



    Dass hier allerdings mal wieder die Phantomzahl von einem 98%-Anteil rechtsextremer Antisemitismus-Delikte herumgeistert, nimmt man allmählich doch etwas fassungslos zur Kenntnis. Die Problematik der nicht zuzuordnenden Straftaten sollte sich eigentlich allmählich herumgesprochen haben.



    Zur Diskussion der RIAS-Zahlen übrigens schon folgende Studie kripoz.de/2024/10/...ll-und-dunkelfeld/

  • Weder nur auf Israel und sonst nichts auf der Welt eindreschen!



    Noch gar nicht auf Israel, weil dann ja irgendwie "antisemitisch"!

    Bei aller Betroffenheit in Deutschland: Was ist das überhaupt für eine Denkweise, die plötzlich andere Maßstäbe anlegt, wenn etwas als jüdisch gelesen wird?

    Israel ist nicht 100 % jüdisch. Juden sind zumeist keine Israeli. Und noch mal: verschiedene, nicht-universale Maßstäbe sind was genau in diesem Falle? Eher das, was RIAS unbedingt finden will?

    Doch sicher nicht beim klugen, weisen Moshe Zimmermann, der unaufgeregt und wohl auch aus Liebe zu Israel das vor den Folgen der Besatzung und Brutalisierung noch zu retten hofft.

    Besatzung rasch beenden; faire Lösung in einem Staat oder in zweien; mehr Moshe Zimmermann und null Netanyahu wären gute Schritte.

    • @Janix:

      Herr Zimmermann scheint eine ähnlich sympathische und dialogorientierte Person zu sein wie die Mitarbeitenden und Forschenden der Gedenkstätte Anne-Frank und Michel Friedman. Dazu kann man die Ausführungen von Meron Mendel und Saba-Nur Cheema empfehlen (ausnahmsweise zu den Türkeikolumnen von Bülent Mumay mal was interessantes und produktives in der FAZ: sabanurcheema.com/...disches-abendbrot/ und: www.faz.net/aktuel...disches-abendbrot/

      • @Hamburger in Istanbul:

        Ich glaube nicht komplett, dass alles immer harmonisch ist oder zu lösen ist. Wir werden auch wohl Druck von außen brauchen auf Hasspredigten jeglicher Seite.

        Wenn aber zwei wie Mendel und Cheema es schaffen, warum dann nicht auch mehr? Dialog, Konfliktgespräche statt Drohnen und Patronen. Ich las ein längeres Interview mit den zweien: eine Insel der Hoffnung.

  • „Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Antisemitismusbekämpfung und der Übernahme von der Narrativen der israelischen Rechten.“



    Das Ergebnis der Studie verwundert mich, ehrlich gesagt, jetzt so überhaupt nicht - dazu muss man nur einen Blick in die Kommentarspalte der taz werfen, wenn es dort um die entsprechenden Themen geht.

    • @Abdurchdiemitte:

      Das Manöver "falsche Alternative konstruieren": Entweder Netanyahu oder Hamas etc.



      Als ob man nicht gegen die Handlungen beider zugleich sein könnte. Als ob man nicht die Rechte von Israelis und Palästinensern zugleich sehen könnte. Also ob es nicht entsprechende Friedensinitiativen längst gäbe, die sich sehr deutlich auch von Netanyahus Wahn absetzen.



      Moshe Zimmermann ist einer dieser klugen Analytiker.

    • @Abdurchdiemitte:

      Da verwischen eher die Grenzen zwischen Kritik an der Kriegsführung, Hamaspropaganda und Antisemitismus.

  • Was in dem Artikel allerdings nicht steht: Wie man diffuse Begrifflichkeiten richtig definiert. Was ist "Spätkapitalismus"? Was ist eine "Salatbar-Ideolgie"?

  • "RIAS vervielfältige, so die Studie, die Schwäche der IHRA-Definition, weil es auch die in der IHRA-Definition geforderte „Berücksichtigung des Gesamtkontexts“ ignoriere."

    Sich nicht an die IHRA-Definition zu halten, ist eine Schwäche der IHRA-Definition?

    • @BrendanB:

      Die Schwäche der IHRA-Definition steht im Absatz obendrüber.

      Leseverständnis.

      • @sart:

        Nein, da steht nur das, was Kritiker der IHRA- Definition vorwerfen. Das ist etwas völlig anderes.

  • Ich erinnere mich an diese "Islamophobie-Studie" von der "CLAIM"-Organisation, letztes Jahr. Antimuslimische Ressentiments sind ein reales Problem, aber wurde es in diesem Bericht nicht bereits als islamophob oder antipalästinensischer Rassismus gewertet, dass die Polizei nach dem 7. Oktober rigide gegen die Hamas-freundlichen Kundgebungen auf den Sonnenallee vorgegangen ist? Die als "Solidaritätsbekundungen mit der palästinensischen Zivilbevölkerung" gebrandet wurden? Wurden dort nicht bereits Kufyia-Verbote in Schulen als rassistisch bezeichnet?



    Gab es damals irgendeine Kritik, dass dieser Rassismusbegriff zu schwammig sei und z.B. droht, die Forderung zu verunmöglichen, dass muslimische und migrantisierte Communities Antisemitismus in den eigenen Reihen konfrontieren sollen ?



    Nicht dass ich wüsste.

    • @a jugovic:

      was hat das mit rias und der beurteilung der vorliegenden studie zu tun?

      • @Pflasterstrand:

        Beides Analysen und Erfassung von Diskriminierungsfeldern.

        Nicht so schwer sich daran zu erinnern. Dass mit zweierlei Maß gemessen wird (siehe die Kommentare von damals) ist offenbart.

        • @AlHozo Hoto:

          Hm, wenn man konstatiert, dass sowohl Islamfeindlichkeit (Islamophobie) als auch Judenfeindlichkeit (Antisemitismus) reale, ernstzunehmende Phänomene unserer hiesigen Gesellschaft sind, was ist daran denn bitte „zweierlei Maß“?



          Dass Muslime antisemitische Sterotype vertreten und zugleich selbst Opfer islamophober Diskriminierung werden können, ist ja nun auch nicht unbedingt ein Widerspruch.



          Ausgangspunkt der Diskussion war allerdings, dass der RIAS fehlende Transparenz und unscharfe Begrifflichkeiten in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus vorgeworfen werden - wenn man nun auch bei der CLAIM-Studie zu Islamfeindlichkeit genauer hinschaut - insofern hat der Forist @a jugovic natürlich recht - und das dazu führt, die Definitionen zu schärfen, kann das der Debatte doch wohl kaum schaden. Oder?

        • @AlHozo Hoto:

          sind die autoren der beiden studien dieselben personen? oder teil ein und derselben initiative, stiftung, interessensgruppierung, etc.?

      • @Pflasterstrand:

        Dass mit zweierlei Maß gemessen wird.

        • @Arne Babenhauserheide:

          von wem wird mit zweierlei maß gemessen? im obenstehenden artikel ist die CLAIM-Studie doch gar nicht das thema und der taz-artikel zu dieser studie letztes jahr wurde von einer anderen autorin verfasst als der obenstehende artikel.

      • @Pflasterstrand:

        ... sehr viel, wenn man gewillt ist, über den Tellerrand zu blicken. Denn auch die "taz" ist nicht einheitlich in ihrer Berichterstattung und Kommentierung (ein Glück).

        • @Odysseus L:

          das finde ich auch gut, dass die taz nicht einheitlich in der berichterstattung ist, aber ich verstehe nicht, über welchen tellerrand es zu blicken gilt, wenn ein bericht über eine kritische studie zu RIAS beantwortet wird mit einem hinweis auf eine methodisch fragwürdige studie zum antiislamismus. macht jetzt das eine das jeweils andere besser oder problematischer? der auslöser meiner frage scheint mir doch eher ein weiteres beispiel für den in diesem debattenzusammenhang exponentiellen relativismus zu sein. mit tellerrändern hat es hingegen nichts zu tun.