Streikerfolg der Krankenhausbewegung: Erste Anzeichen der Besserung
Nach fast fünf Monaten Tarifkonflikt einigen sich Gewerkschaft und Charité-Klinikleitung. Bei Vivantes geht der Streik unterdessen weiter.
Inhaltsverzeichnis
Um 6 Uhr am Donnerstagmorgen – nach 21 Stunden Verhandlung – unterschrieben Vertreter:innen der Klinikleitung sowie der Gewerkschaft Verdi ein Eckpunktepapier, das die Grundlage für einen Tarifvertrag namens „Gesundheitsfachberufe Charité“ bilden soll. Dieser soll in den nächsten fünf Wochen ausgearbeitet werden und am 1. Januar 2022 in Kraft treten. Der Streik an der Charité wird damit ausgesetzt – offiziell beendet wird er dann mit Abschluss des Tarifvertrags.
Sichtlich von den Verhandlungen ermattet treten am Donnerstagvormittag Vertreter:innen der Charité und der Gewerkschaft Verdi gemeinsam vor die Presse. Als „Lichtblick für die Beschäftigten, dass es besser wird“, bezeichnete die stellvertretende Verdi-Landesbezirksleiterin Susanne Feldkötter das Eckpunktepapier. Der kommende Tarifvertrag werde „besser als alle bisherigen“ Verträge im Gesundheitssektor, so Intensivpflegerin Dana Lützkendorf.
Auch seitens der Charité lobte man das Verhandlungsergebnis. Martin Kreis, Charité-Vorstandsmitglied, sagte, es habe sich ein Kompromiss gefunden, für den sich „beide Seiten stark bewegt“ hätten. Zwar bedeute die gefundene Lösung „große Anstrengung“ für die Charité, letztlich entstünden aber auch Wettbewerbsvorteile, ergänzte Carla Eysel, Charité-Vorständin. Man sei nun in der Lage, eine gute Pflege und gute Arbeitsbedingungen anzubieten – das ziehe Personal und Patient:innen an.
Durchbruch bald auch bei Vivantes?
Damit steigt der Druck auf den kommunalen Krankenhauskonzern Vivantes, dessen Beschäftigte sich ebenfalls im Arbeitskampf befinden. Neben den Pflegenden streiken hier auch die Beschäftigten der Vivantes-Tochterunternehmen für eine bessere Bezahlung. Da dort trotz identischer Arbeit nur Teile der Belegschaft nach Tarifvertrag bezahlt werden, entstehen laut Klinikbewegung Lohnunterschiede von bis zu 900 Euro.
Aus Gewerkschaftskreisen hatte es zuletzt geheißen, in den Verhandlungen mit Vivantes bewege sich nichts; die Arbeitgeberseite sei offenbar nicht willens, eine Einigung zu erzielen. Diese wiederum erklärt seit Monaten, die Forderungen der Gewerkschaft seien nicht umsetzbar. Nach der Einigung mit der Charité dürfte dieser Standpunkt allerdings schwer zu verteidigen sein.
Tatsächlich hieß es am Donnerstag dann auch aus der Bewegung, der Ton in den Vivantes-Verhandlungen habe sich plötzlich geändert; statt zu blockieren bewege sich Vivantes nun merklich. Offenbar ist der Wille, eine Einigung zu erzielen, nun da.
700 neue Pflegestellen
Bei der Charité haben sich Gewerkschaft und Klinikleitung auf einen Mindestschlüssel geeinigt, der für jeden Klinikbereich festlegt, für wie viele Patient:innen eine Pflegekraft maximal zuständig sein darf. Auf den Intensivstationen etwa sind das nun 1,8 rechnerische Patient:innen pro Pflegekraft, für die Kreißsäle wurde eine 1:1-Betreuung festgelegt. Bisher habe eine Intensivpflegerin regulär 2, bei Unterbesetzungen aber auch mal 3 oder 4 Patient:innen gleichzeitig versorgen müssen. Hebammen aus der Klinikbewegung hatten berichtet, teilweise für drei Geburten gleichzeitig zuständig zu sein.
Zudem soll es ein Belastungsausgleichssystem geben. Dieses soll nicht nur bei Unterbesetzungen greifen, sondern auch, wenn besonders viele Leasing-Kräfte – welche mit den genauen Abläufen eines Krankenhauses häufig nicht ausreichend vertraut sind – eingesetzt werden, oder wenn es während einer Schicht zu gewaltsamen Übergriffen auf Pflegende kommt.
Fünf Schichten unter besonderer Belastung ergeben einen Belastungspunkt im Wert von einer regulären Schicht, der in Freizeit oder Geld eingetauscht werden kann. Im Jahr 2022 sollen maximal fünf Punkte ausgeglichen werden können, 2023 dann 10 Punkte und 2024 maximal 15 Punkte.
Um den Ansprüchen des Eckpunktepapiers gerecht zu werden, müsse die Charité nun 700 bis 750 zusätzliche Pflegekräfte einstellen, sagt Kreis. Er lehnte es ab, bis dahin die Kapazitäten der Charité an das vorhandene Personal durch Bettensperrungen anzupassen.
„Wir werden alles daransetzen, das zu vermeiden“, sagte er. Gut möglich, dass sich die Charité die Unterbesetzungen über das Ausgleichssystem erkaufen muss, bis tatsächlich genügend Personal vorhanden ist. Für die neuen Pflegestellen entstehen dagegen keine Mehrkosten. Wegen des Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes lassen sich zusätzliche Pflegestellen über die Krankenkassen gegenfinanzieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“