Strahlenforschung nach dem Atomgau: „Vergiftete Wissenschaft“
Die Zusammenarbeit ukrainischer und russischer Strahlenforscher ist gestört. Auch die archivierten Daten sind nicht mehr für alle verfügbar.
Lediglich ein Fünftel der besonders verstrahlten Gebiete liegt auf ukrainischem Territorium, „entsprechend wichtig wäre es, mit den Kollegen aus Russland und Weißrussland zusammenzuarbeiten“. Seit der russischen Annexion der Krim – unmöglich.
Yaroslav Movchan von der Nationalen Luftfahrt-Universität der Ukraine spricht gar von einer „vergifteten“ Wissenschaft. „Wir haben festgestellt, dass man den Daten der russischen Kollegen nicht mehr trauen kann“, sagt Movchan. Der Ökologie-Professor befasst sich mit den radioaktiven Auswirkungen auf Flora und Fauna, „die selbstverständlich nicht an der Staatsgrenze haltmachen“.
Wichtig wäre es beispielsweise, Daten über Wildschweinpopulationen in der Ukraine mit denen in Westrussland zu vergleichen. „Denn Wildschweine haben einen nächtlichen Aktionsradius von bis zu 50 Kilometern. Um etwa strahlungsbedingten Mutationen auf die Spur zu kommen, ist die Zusammenarbeit mit Forschungsprojekten in Westrussland unabdingbar.“
Movchan glaubt nicht, dass die russischen Kollegen, mit denen er Kontakt hält, selbst die Daten „vergiften“. Der 59-Jährige sagt: „Das ist eindeutig das Werk des russischen Geheimdienstes.“ Strahlenmesswerte, Isotopen-Konzentration, Konstruktions- oder Einsatzpläne – es lagern etwa 99 Prozent aller in den 80er Jahren erhobenen Daten rund um den havarierten Reaktor und der 30-Kilometer-Sperrzone in russischen Archiven.
Prognose: „Unsere Zukunft ist ein grundsätzliches Menschheitsproblem“, sagt die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Ein Gespräch über die Ohnmacht der Zivilisation, moralische Folgen von Tschernobyl und Angst vor Vögeln.
Strahlenschutz: 3.000 Menschen arbeiten aktuell immer noch an der Begrenzung der Schäden im alten Unglücks-AKW. Doch eine langfristige Lösung zur Sicherung gibt es nicht. Ein Lagebericht.
Atomvernarrt: Die Hälfte der Elektrizität der Ukraine kommt immer noch aus Reaktoren. Unter anderem aus dem größten Atomkraftwerk Europas. Das steht in der Ostukraine, nur 250 Kilometer von der Front entfernt.
Biotop: Da röhrt der Hirsch. Nach dem ersten Schock hat die Natur die ehemalige Sperrzone zurückerobert. Heute gibt es dort neben Hirschen auch Wölfe, Wildpferde und mutierte Wühlmäuse.
„Die sowjetische Atomforschung war auf die Zentren Dubna bei Moskau und Tscheljabinsk am Ural konzentriert. Nach dem Ende der Sowjetunion blieb alles da und wurde so russisch“, sagt Movchan. Für die eigene ukrainische Forschung seien aber gerade die ersten Messreihen nach dem Reaktorunfall immens wichtig. Movchan sagt: „Archivanfragen sind derzeit zwecklos.“
Auch mit Weißrussland sei die Zusammenarbeit schwer, erklärt der Biologe Movchan. „Die Wissenschaftler dort haben unter der Repression des Regimes zu leiden.“ Präsident Lukaschenko habe kein Interesse an Aufklärung. „Lukaschenko gehört die Firma Belarus Produktui, die den Lebensmittelmarkt beherrscht.“ Milch, Käse, Soßen – „natürlich hat Lukaschenko kein Interesse daran herauszufinden, was in den Lebensmitteln drin ist. Ich kenne Wissenschaftler, die wegen ihrer Arbeit zu Umweltgiften ins Gefängnis gekommen sind.“
Ein Forschungsreaktor auf der Krim
„Wir haben zwei atomare Forschungsreaktoren: einen in Kiew und den anderen in Sewastopol“, sagt Konstantin Loganovsky. Sewastopol liegt auf der Krim, seit der Annexion durch Russland im März 2014 sind alle ukrainischen Forschungsprojekte, die auf diesen Forschungsreaktor angewiesen waren, obsolet.
„Der Reaktor in Sewastopol ist und bleibt eine ukrainische Forschungseinrichtung! Ich habe nichts gegen Russen, ich bin selbst einer, komme aus Sankt Petersburg“, sagt Loganovsky. „Aber Russland muss uns die Krim zurückgeben.“
„Es gab eine breite Zusammenarbeit mit den Russen, mit vielen meiner Kollegen bin ich befreundet“, sagt Loganovsky. Er zählt Forschungseinrichtungen in Sankt Petersburg, Moskau, Tscheljabinsk auf. „Exzellent“ und „unerlässlich“ nennt er die gemeinsame Forschung. Für Konstantin Loganovsky geht es bei den Arbeiten nicht um ein ukrainisches oder russisches Thema.
Konstantin Loganovsky
„Tschernobyl gab der Wissenschaft viele neue Daten über die Auswirkung der Radioaktivität auf den Menschen. Für die medizinische Forschung war das eine Revolution.“ Bis zur Reaktorkatastrophe – und auch noch einige Jahre danach – seien die Menschen absolut blind gewesen für die Strahlenkrankheit. Loganovsky: „Das war ja eine Top-Secret-Angelegenheit in der Sowjetunion.“
Deshalb seien seine Arbeiten und die seiner Kollegen „Forschungen für die ganze Welt“. Loganovsky sagt: „Es ist doch klar, dass Fukushima nicht der letzte atomare Unfall war. Speziell in Westeuropa und in den USA ist die Dichte der Reaktoren enorm hoch. Und etliche laufen noch, obwohl ihre ingenieurtechnische Lebenszeit längst abgelaufen ist.“ Wer so mit technologischen Naturgesetzen umgehe, der fordere geradezu einen neuen Unfall heraus.
Forscher aus Japan
„Und dann kommen die Verantwortlichen zu uns“, sagt Loganovsky. Entsprechend groß sei das Interesse japanischer Forscher an den Arbeiten seines Instituts. „Die Kollegen kamen nach dem Unfall und haben uns nach der Methodologie gefragt, mit der wir arbeiten“. Offenbar sei der Mensch so gestrickt, dass er sich erst nach einem Ereignis überlegt, wie er damit umzugehen hat.
„Wir stehen mit mehr als 1.000 japanischen Wissenschaftlern in regem Kontakt, ich war selbst in Japan, mit einigen Kollegen ist das inzwischen fast wie in einer Familie“.
Tschernobyl und die Folgen
Nicht überraschend ist deshalb, dass die jüngste Arbeit von Konstantin Loganovsky „Gesundheitliche Effekte von Tschernobyl und Fukushima – 30 und 5 Jahre nach dem Ereignis“ heißt. „In Fukushima wurde nur etwa ein Zehntel der Radioaktivität von Tschernobyl freigesetzt, und sie hatten Glück: Sehr viel der Strahlung ging Richtung Meer, nur ein kleiner Teil wurde ins Landesinnere abgegeben“, sagt der ukrainische Strahlenmediziner.
Anerkannte Strahlenopfer
Entsprechend schlägt sich das in den Zahlen nieder: Dem Report zufolge waren 3.361.870 ukrainische Staatsbürger im Jahr 2000 als „Überlebende der Tschernobyl-Katastrophe“ klassifiziert – also Menschen, die anerkannte Strahlenopfer sind. Bis zum vergangenen Jahr sank diese Zahl auf 2.025.141 Ukrainer. Nicht nur Heilungen reduzierte die Zahl, es waren vor allem die Todesfälle. Auch weil in Fukushima 20-mal weniger Menschen mit dem Kampf an den Reaktoren befasst waren, erwartet Loganovsky dort bei Weitem nicht eine solche Dramatik.
Zentral bei Fällen der Strahlenkrankheit sei eine Schädigung des vegetativen Nervensystems, sagt Konstantin Loganowsky. Bei höheren Dosen seien Leukämie, Brust- oder Schilddrüsenkrebs die wahrscheinliche Folge. „Wir konnten aber nachweisen, dass bereits geringere Dosen das vegetative Nervensystem angreifen.“ Arbeitet das nicht mehr richtig, sind nicht selten Fehlsteuerungen der Organe die Folge, „auch eine erhöhte Herzinfarktrate haben wir registriert“.
Auf die Frage nach der eigenen Gesundheit antwortet der Biologe Movchan lediglich: „Alle meine Kollegen, mit denen ich 1986 in der Zone gearbeitet habe, sind tot. Mit zwei Ausnahmen.“
Der Strahlenmediziner Loganovsky sagt: „Ich bin gesund. Zumindest nach ukrainischem Maßstab.“ Natürlich habe er seinen Lebensstil umstellen müssen. Auch seien ständig Insulininfusionen notwendig. Aber Loganovsky lacht: „Wahrscheinlich würde ich im Westen als schwerkrank gelten.“
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