Atomkritiker über AKW-Verlustgeschäft: „Ich habe Angst um die Konzerne“
Vor 30 Jahren explodierte das AKW Tschernobyl. Das Ende der Atomindustrie war bereits zuvor besiegelt, sagt Mycle Schneider, Berater für nukleare Sicherheit.
taz: Herr Schneider, hat Tschernobyl der Atomwirtschaft das Genick gebrochen?
Mycle Schneider: Nein. Mit dem Aufschwung der Atomindustrie war es auf ihrem wichtigsten Markt, den USA, schon Mitte der siebziger Jahre vorbei. 1973 wurde dort der letzte Reaktor bestellt, der dann auch gebaut und in Betrieb genommen wurde. Schon vor dem Unfall von Three Mile Island in Harrisburg 1979 hatten die Stromunternehmen 40 Prozent ihrer Aufträge storniert.
Trotzdem wurden weiter AKWs gebaut.
Weil sie schon so weit geplant und finanziert waren, dass es kein Zurück mehr gab. Aber der Schwung war weg. 1996 ging in den USA der vorerst letzte Reaktor in Betrieb, das war Watts Bar 1 in Tennessee, nach 23 Jahren Bauzeit. Watts Bar 2 ist seit nunmehr über 42 Jahren im Bau. Erst 2012 gingen wieder vier neue Reaktoren in Bau, jeweils zwei in Vogtle, Georgia und in Summer, South Carolina. Sie liegen bereits weit hinter dem Zeitplan und über den veranschlagten Kosten. Und ähnlich ging das auch in anderen Ländern. Russland etwa hat in den letzten 10 Jahren nur vier Meiler in Betrieb genommen, mit einer durchschnittlichen Bauzeit von 30 Jahren.
Die Umweltbewegung hat die Atomwirtschaft in ihrer Verbindung mit dem Staat immer als sehr mächtig erlebt. War das eine Fehleinschätzung?
Entscheidend war: Viele Projekte rechneten sich einfach nicht. Die USA hatten mit Abstand das größte Atomprogramm und waren international Vorreiter der Atomwirtschaft. Aber viele der Stromunternehmen, die dort Reaktoren gebaut hatten, sind pleitegegangen. Denn in vielen US-Staaten haben die Aufsichtsbehörden gesagt: Die Konzerne geben die Mehrkosten für den Bau der AKWs an die Kunden weiter, ohne jahrelang dafür etwas zu liefern. Das ist nicht zu rechtfertigen. Und dann haben Behörden das Schema verboten. In Georgia und South Carolina dürfen sie es noch. Für Vogtle etwa muss jeder Stromkunde schon über 80 Dollar pro Jahr draufzahlen.
Warum hat es sich nicht gerechnet?
Das lag an technischen Problemen, Veränderung der Marktsituation und vor allem an Sicherheitsauflagen. Und die Projekte vorzufinanzieren, ist wahnsinnig teuer. Das hat sich auch bis heute nicht geändert.
Gerade als sich in den USA diese Fragen stellten, sind Deutschland und Frankreich in die Atomkraft eingestiegen. War das von Anfang an ökonomischer Unsinn?
Die Hoffnung war ja, man könne für den Brennstoff bald von Uran auf Plutonium umstellen. Mit dem Plutonium wollte man dann mehr billige Primärenergie erzeugen, als man vorher investiert hatte. Und die Militärs hatten daran natürlich ein großes Interesse: Als Nebenprodukt wird exzellentes Waffenplutonium erzeugt. Aus dieser Zeit und diesem Denken stammen die deutschen Atomprogramme wie Kalkar und Wackersdorf.
Das war die Zeit nach dem ersten Ölschock. Alle waren auf der Suche nach billiger Energie.
Die Idee war immer: Die massive Nutzung der Atomkraft führt zur Unabhängigkeit vom Öl. Aber das hat nie gestimmt. Frankreich, das Land mit dem höchsten Atomstromanteil, ist da ein gutes Beispiel: 1973 machte der Anteil des französischen Ölverbrauchs, der für die Stromproduktion eingesetzt wurde, 13 Prozent aus. Das Atomprogramm brachte diesen Anteil runter bis auf ein Prozent. Aber was passierte mit den anderen 87 Prozent des Ölverbrauchs? Die gingen vor allem in den Verkehr, und da hat sich wenig verändert.
Jahrgang 1959, berät als Energieexperte internationale Institutionen zur Atomsicherheit. 1997 wurde er mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Jährlich gibt er das Standardwerk „World Nuclear Industry Status Report“ heraus.
Die Umweltbewegung glaubt gern, dass sie nach Tschernobyl die Atomkraft erledigt hat. Überschätzt sie sich?
Solche Prozesse lassen sich nicht auf einen Faktor schrumpfen. Der Druck der Umweltbewegung war durchaus groß. In den USA hat sie etwa über Gerichtsprozesse eine wichtige Rolle bei der Verzögerung der Projekte gespielt. Und jede Verzögerung kostete eine Menge Geld. Der Weg für den deutschen Atomausstieg wurde ebenfalls Mitte der siebziger Jahre bereitet. Da wurden Institute gegründet und die ersten Expertisen erstellt. Und nach Tschernobyl 1986 legten Atomgegner in Deutschland zwischen April und Dezember 20 Ausstiegszenarien auf den Tisch. 20 Konzepte! In vielen Ländern wie etwa Frankreich war das gar nicht möglich, weil es keine unabhängigen Experten gab.
Deutschland war der Hort des Widerstands?
Es gab hier nach Tschernobyl einen massiven Aufschrei. Aber eines ist bemerkenswert: Wo ist 1986 weltweit das erste Atomkraftwerk nach dem Unfall von Tschernobyl ans Netz gegangen? In Deutschland. Und nicht irgendein Reaktor, sondern das hart umkämpfte Brokdorf, im Oktober 1986. Rückwirkend betrachtet muss man sagen, es ist ein historisches Missverständnis, dass dieser Aufschrei direkt zu den Ausstiegsplänen in Deutschland geführt hat.
Der Motor hat erst mal weitergebrummt.
Die Folgen kamen mit Verzögerung: Als 1990 die deutsche Wiedervereinigung kam, wurden von heute auf morgen die fünf ostdeutschen AKWs sowjetischer Bauart vom Netz genommen. Das war ohne Zweifel ein Tschernobyl-Effekt.
War die Angst vor dem Ostreaktor nicht gerechtfertigt? Immerhin war gerade in Tschernobyl ein solcher Reaktor in die Luft geflogen.
Jede Hitliste über die Sicherheit von Atomkraftwerken ist irreführend. So etwas kann man nicht anhand einheitlicher Kriterien beurteilen. Ein Beispiel: Angela Merkels Entscheidung, nach Fukushima sieben deutsche Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen, beruhte nur darauf, dass sie älter als 30 Jahre waren. Das war sehr zweifelhaft.
Aber sie klang erst einmal logisch: Je älter eine Anlage, desto anfälliger ist sie für Pannen.
Man kann nur feststellen: Three Mile Island war ein brandneuer Reaktor, 29 Tage in kommerziellem Betrieb. Tschernobyl war ein brandneuer Reaktor, 28 Monate am Netz. In Fukushima spielte das Alter der Reaktoren beim Unfall eine untergeordnete Rolle.
Wenn die Atomkraft schon seit Mitte der siebziger Jahre unrentabel war, wieso wurden dann noch Dutzende von Meilern geplant und gebaut?
Es ist immer schwierig, ein Multimilliardenprojekt in der Mitte abzubrechen. Es ist für Großindustrie und Politik leichter zu argumentieren: „Jetzt haben wir schon so viel Geld investiert, das müssen wir durchziehen.“ In solche Projekte sind oft viele Staaten eingebunden und sie kosten Milliarden. Das macht es extrem schwierig, sie zu kippen. So war das oft.
Wenn trotz Tschernobyl weiter gebaut wurde, welche Bedeutung hatte das Ereignis, welche Bedeutung hatte die Umweltbewegung dann?
Es gab Länder, die wegen aufmüpfigen Bürgern gar nicht erst in die Atomtechnik eingestiegen sind, obwohl sie kurz davorstanden: Nehmen Sie Dänemark oder Österreich, wo ein AKW sogar schon gebaut war. Italien ist 1987 per Volksentscheid ausgestiegen. Der klarste Bruch aber passierte in Osteuropa. Russland ist ja inzwischen der aggressivste Vermarkter von Atomtechnik und bietet in vielen Ländern Bau, Besitz und Betrieb aus einer Hand an, wenn dafür ein fester Strompreis garantiert wird. Und trotzdem haben sie zu Hause in den letzten 10 Jahren nur ganze vier AKWs ans Netz gebracht. Die hatten eine durchschnittliche Bauzeit von 30 Jahren und sind alle noch vor Tschernobyl geplant worden. Die Baustellen wurden aktiviert, wenn Geld da war, und eingefroren, wenn es knapp war.
Hatte die Antiatombewegung da überall auf der Welt eine Schwachstelle gefunden?
Der stärkste Verbündete der Umweltbewegung waren die hohen Kosten. Der Widerstand hatte natürlich Einfluss darauf. Jede Verzögerung kostet Geld. Heute sind mindestens drei Viertel aller weltweiten Reaktorneubauten verzögert und werden stetig teurer.
Das bringt die Industrie in arge Schwierigkeiten.
Die hatte sie schon lange. Aber Fukushima hat dann eine Industrie, die bereits in großen Schwierigkeiten steckte, in den Bankrott geführt, wenn man sich Frankreich anschaut. Wenn von heute auf morgen etwa 50 Atomkraftwerke in einem wichtigen Markt wie Japan stillgelegt werden und du bist Lieferant für Brennstoff und Dienstleistungen aller Art, dann hat das erhebliche Folgen.
Wo erwarten Sie den nächsten großen Unfall?
Immer da, wo man ihn nicht erwartet. Große Sorgen macht mir die katastrophale wirtschaftliche Situation der Atombetreiber. Es klingt vielleicht seltsam, aber ich habe Angst um die Atomkonzerne. Der französische Konzern Areva, der sich als „global leader in nuclear energy“ definiert, ist bilanztechnisch bankrott. Sie haben angekündigt, 6.000 Stellen zu streichen, viele davon in Deutschland. Alleine in La Hague sollen 500 Stellen eingespart werden. Auch für EDF ist die Frage drängend. Der Konzern ist mit 37,4 Milliarden Euro hoch verschuldet und hat die letzten Jahre Kredite aufgenommen, um dem Staat Dividende zu zahlen. Der Investitionsbedarf bei den alten AKWs ist gewaltig. Wie garantiert man unter solchen Umständen den sicheren Betrieb von Hochrisikoanlagen?
Sie haben Angst vor einem Unfall in Frankreich?
Die wirtschaftliche Lage ist bei RWE, Eon und Vattenfall auch dramatisch. In Frankreich ist sie allerdings weitaus am schlimmsten, weil der Anteil der Atomsparte der Unternehmen am Gesamtgeschäft viel höher ist.
Die allgemeine Wahrnehmung ist aber: Gefährlich wird es vielleicht in den USA, wo uralte Reaktoren immer wieder verlängert werden; in Osteuropa, wo alte russische Meiler stehen, oder in Indien, wo Anlagensicherheit nicht erste Priorität hat.
Das ist Unsinn. Entscheidend für einen großen Unfall sind die spezifischen Umstände einer einzelnen Anlage in Kombination mit „besonderen Umständen“. Gruppen wie der IS hantieren inzwischen mit einer Feuerkraft und komplexen Angriffsstrategien, die allemal ausreichen, ein Atomkraftwerk zur Kernschmelze zu bringen. Denken Sie an die Drohnenflüge unbekannter Herkunft über den französischen Atomanlagen. Bis heute weiß niemand, von wem diese Demonstration kam, die zeigt, wie verwundbar das System ist.
Was raten Sie da? Den Sofortausstieg?
Das ist eine gesellschaftliche Debatte, die wir dringend führen sollten. Atomkraftwerke sind nicht mehr konkurrenzfähig in einem Markt, in dem die Erneuerbaren die Betriebskosten gegen null drücken. Die Welt wird nicht sicherer, und die Atomkonzerne stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Das falsche Zeichen jedenfalls ist die Entscheidung der französischen Regierung, Areva mit fünf Milliarden Euro Kapitalaufstockung helfen zu wollen, ohne dass sich irgendetwas ändert. Die Regierung steckt das Steuergeld—falls Brüssel die Transaktion genehmigt – nicht in eine neue Strategie, sondern in ein Fass ohne Boden. Da zeigt sich das alte katastrophale Muster der Atomwirtschaft: Weil schon so viel Geld investiert wurde, muss immer neues fließen.
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