Stimmungsbild aus Moskau: Die russische Parallelwelt
Viele Menschen auf Moskauer Straßen wundern sich: „Krieg? Welcher Krieg denn?“ Putins Indoktrination wirkt, nur wenige scheinen entsetzt.
Maxim Popow, ein schlaksiger 19-Jähriger, zieht an seiner Zigarette. „Was in der Ukraine passiert, war zu erwarten“, sagt er. „Wenn unsere Regierung sagt, dass etwas nicht passieren wird, passiert genau das ein paar Tage später. War schon immer so.“ Der Krieg? – „Keine Überraschung. Weit weg. Ein Schritt, der nötig ist.“ Popow erklärt auch, warum er das so sieht. Selenskis Staat tendiere zum Terrorismus gegen die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine. „Die diplomatischen Kanäle sind ausgeschöpft, und wir müssen schließlich unser Land unterstützen.“
Es sind Sätze, wie sie auch Russlands Präsident Wladimir Putin bei seinen Auftritten immer wieder sagt. Mit zusammengekniffenen Lippen, überzeugt von seinem Tun. Die Ukraine sei gar kein Staat, hatte er an diesem Montag in seiner Rede nicht zum ersten Mal gesagt. „Irgendwie bewundere ich Putin auch für seine Ehrlichkeit“, sagt Popow. Nur: „Leiden müssen Menschen, die nichts damit zu tun haben. Menschen, die weit weg sind, in Sibirien oder im Fernen Osten.“ Die Ukraine erwähnt er, obwohl selbst aus Sibirien, mit keinem Wort.
Das russische Staatsfernsehen liefert Bilder von zerstörten Häusern und fliehenden Menschen. Wann und wo sie aufgenommen wurden, bleibt unklar. Im Kanal Rossija-24 nennt es ein Mitglied des russischen Föderationsrats eine „gerechtfertigte Operation“. Russland werde die Ukraine „in Ruhe entnazifizieren“. Auch Putin hatte die Invasion – die er freilich nicht als solche bezeichnet – mit der „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine begründet. In den Wortgebrauch der Russ*innen sind diese Begriffe bereits eingegangen.
„Die Amerikaner sind an allem schuld“
„Beängstigend, was da passiert. Es sieht so aus, als führe die Ukraine Krieg“, sagt Olga Putschkowa am Grab des unbekannten Soldaten im Alexandergarten. „Wir werden alle leiden. Auch unsere Kleine.“ Sie hebt ihre Tochter aus dem Kinderwagen. „Und warum? Weil Selenski die Ukrainer gegeneinander aufhetzt.“
Informationen bezieht sie aus dem Internet. „Wer gut und wer böse ist, verstehe ich längst nicht mehr“, sagt die 42-Jährige. „Aber ich“, mischt sich ihre Freundin Olga Silantjewa ins Gespräch. „Amerika ist an allem schuld. Sie wollen uns kaputtmachen. Die Ukraine, ach, die hat doch eh nichts zu sagen. Wir müssen die Amerikaner aus Kiew vertreiben.“
Beim Spaziergang durchs Zentrum entsteht der Eindruck, das Leben in Moskau spiele sich in einer Parallelwelt ab. „Krieg? Welcher Krieg denn?“, fragt ein Wachmann und schaut weiter einen Film auf seinem Handy. Es ist, als müssten sich die Menschen schützen vor den Nachrichten rund um sie herum, indem sie alles leugnen. „Gott hat Russland mit allem ausgestattet, was wir brauchen“, sagt ein Abgeordneter im Staatsfernsehen.
Es gibt Empörung und Entsetzen
Der Chefredakteur des unabhängigen Online-TV-Senders Doschd kann dagegen in seiner Livesendung kaum die Tränen verbergen. „Wir müssen weiter warnen, es ist die einzig vernünftige Position heute“, schreibt er später auf Telegram. Ein Moskauer Unternehmer sagt: „Entschuldige uns, Westen! Wir sind so dumm.“ Eine Feministin schreibt wütend: „Wie soll ich meinem fünfjährigen Sohn erklären, dass unser geliebtes, schönes Land seinen Nachbarn überfällt?“ Die russische Schauspielerin Lia Achedschakowa spricht verzweifelt bei Doschd von einem „Meer an Lügen und schmutzigen Tricks“ des Kremls und ruft die Kulturschaffenden des Landes zum Widerstand auf.
„Wir Russen verstehen nicht, was Putin will. Er drangsaliert uns. Nun will er offenbar auch andere knechten“, sagt Marat Chamassow am Roten Platz. Vom Angriff Moskaus auf die Ukraine hat er noch nichts gehört. „Ich schaue keine Nachrichten, grundsätzlich nicht.“ Der 39-Jährige will mit seiner Frau Sina Moskau anschauen. Aus Tatarstan sind sie angereist – ein Abschied. Bald soll es für die sechsköpfige Familie nach Polen gehen. „Weg aus diesem Land, das wir längst nicht mehr verstehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels