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Steile These zur Corona-KriseUnsere Mathe-Verachtung ist tödlich

Kommentar von Gunnar Hinck

Bildungsbürger kokettieren gern damit, von Naturwissenschaften keine Ahnung zu haben. Die Covid-19-Krise könnte das ändern.

Christian Drosten am 21. Januar. Hätten wir doch damals schon auf ihn gehört! Foto: Michael Sohn/ap

C hristian Drosten, für die Medien der „Chefvirologe der Berliner Charité“, ist der Mann der Stunde. Die Zeit fragt: „Ist das unser neuer Kanzler?“. Das ist bemerkenswert, denn Kanzlerfähigkeit attestiert die Hamburger Wochenzeitung nur sehr selten. Schließlich ist für sie das Maß aller Dinge der Ex-Kanzler, Krisenmanager und Allesversteher Helmut Schmidt, der jahrzehntelang ihr Herausgeber war.

Die Christian Drostens der Republik sind gerade gefragt, ihre wissenschaftlichen Ratschläge begehrt. Die Öffentlichkeit hängt an ihren Lippen, weil sie erklären, wie das so funktioniert mit den Viren und wie schnell sich Covid-19 verbreitet.

Die derzeitige Bewunderung für die Wissenschaftler ist die Kehrseite von gesellschaftlicher Gleichgültigkeit in normalen Zeiten. Wenn nicht gerade eine Pandemie ausbricht, sind Virologen, Naturwissenschaftler generell sowie auch Mathematiker die Nerds, denen man nicht richtig zuhört. Wäre Deutschland ein Haus, würden die Christian Drostens im Keller leben. Abgeschieden forschen sie vor sich hin, während die Bewohner der oberen Etagen durchaus froh sind, dass sie da unten leben – man könnte sie ja mal brauchen.

Naturwissenschaftler sind in normalen Zeiten eine stille Provokation für die Mehrheitsgesellschaft, weil sie das tun, was viele wollen. Sie gehen einer sinnhaften Beschäftigung nach und pfeifen darauf, was in der gehobenen Berufswelt sonst zählt: oberflächliches Sozialprestige, Blenden, Bluffen, Geld. Sie könnten, wenn sie wollen, ihre Intelligenz problemlos in ein viel höheres Einkommen ummünzen. Die Unternehmensberatung McKinsey etwa, wo überzahlte Berater Unternehmen oder dem Staat das Geld aus der Tasche ziehen, versucht seit Jahren, gezielt Mathematiker und Physiker zu rekrutieren.

Der altmodische Wert Erkenntnisinteresse

Christian Drosten, gelernter Arzt, entschied sich, im Labor zu verschwinden und zu forschen. Als Ober- oder Chefarzt im wehenden weißen Kittel hätte er bereits früher viel Anerkennung bekommen können. Naturwissenschaftler konzentrieren sich auf einen so altmodischen Wert wie Erkenntnisinteresse. Sie wollen wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und nicht so, wie wir sie uns wünschen.

Mathe-Nerds sind schon in der Pubertät oft die Außenseiter. Nerds tanzen eher ungelenk und verbringen zu viel Zeit mit Science-Fiction-Lektüre. Sie sind eher unsportlich und tragen praktische Kleidung. Ihr Interessengebiet ist für andere unsexy und schwer zu durchschauen. Natürlich trifft das nicht auf alle zu, sondern, wie Naturwissenschaftler sagen würden, auf eine Teilmenge. Allerdings eine relativ große.

Wenn nicht gerade eine Pande-mie ausbricht, sind Virologen, Naturwissenschaftler generell sowie auch Mathematiker die Nerds, denen man nicht richtig zuhört

Nerds werden erst mit Ende zwanzig außerhalb der eigenen Population sexuell und fortpflanzungstechnisch interessant, wenn sie einen Titel tragen und weiter gekommen sind als der hippe Hobby-DJ aus der gleichen Schulkasse, der immer noch irgendwelche Projekte macht. Gerade Mathematik, die Grundlage der Naturwissenschaften, ist uncool – zumindest in Kreisen, die zwar nicht unbedingt an den Schalthebeln der Macht sitzen, aber den Zeitgeist und den gesellschaftlichen Geschmack entscheidend mitbestimmen.

In den sogenannten klassisch gebildeten Milieus ist es sozial akzeptiert, wenn man damit kokettiert, schlecht in Mathe gewesen zu sein. Kein Mensch in diesen Milieus würde zum Beispiel auf einer Party beim Smalltalk zugeben, dass er noch nichts von Goethe gelesen hat; das würde den sozialen Tod bedeuten.

Man kennt Goethe, aber keine Exponentialkurven

Diese Haltung zeigt sich auch bei vielen, die derzeit an den föderalen Hebeln sitzen. Sie mögen zwar Goethe kennen, konnten sich aber meist nicht vorstellen, dass bei einer Exponentialkurve eine anfangs scheinbar harmlose Zunahme der Infizierten plötzlich so durch die Decke schießt. Das hat Folgen, die derzeit Tote fordern.

Die Christian Drostens der Republik haben schon früh gewarnt, dass die Zunahme der Corona-Infektionen exponentiell und nicht linear ist: Wenn jeder Infizierte nur zwei Menschen ansteckt, dann geht die Kette so: 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256 – und so weiter. Wenn sich die Zahl der Infizierten alle drei Tage verdoppelt, dann würde das Robert-Koch-Institut bereits nach 42 Tagen 16.384 Infizierte zählen. Zum Vergleich: Wenn jeden Tag zwei neue Infizierte hinzukämen, was einer linearen Kurve entspräche, wären es nach 42 Tagen nur 85 Menschen.

Die Versuche, der Öffentlichkeit exponentielles Wachstum zu erklären, haben etwas Rührendes. Gesundheitsminister Jens Spahn veröffentlichte jüngst zwei Kurven, die wahrscheinlich noch nicht mal in der sechsten Klasse durchgehen würden: Eine ging exponentiell nach oben und dann wieder nach unten (warum, wurde nicht erklärt), die andere sah wie ein gemütlicher Mittelgebirgshügel aus. Spahn sagte lieber nicht, wie viele Faktoren ins Spiel kommen müssen, damit die Kurve demnächst wie ein Mittelgebirge aussieht.

Na vielen Dank, Humboldt!

Schuld an der Geringschätzung von Naturwissenschaften und Mathe ist Wilhelm von Humboldt. Von dem stammt das „Humboldtsche Bildungsideal“, vor dem der deutsche Bildungsbürger bis heute in Ehrfurcht erstarrt. Mit Humboldt verbunden ist die „umfassende Persönlichkeitsbildung“. Bildung soll demnach der Selbstverwirklichung dienen und ist kein Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Ganz schlimm ist für die Humboldt-Ideologen das Wort „Nützlichkeit“. Bildung darf nicht nützlich sein!

Der Goldstandard in diesen Kreisen sind alte Sprachen. Wer hier glänzt, hätte seine Intelligenz und sein logisches Denken ebenso gut in Naturwissenschaften einsetzen können – aber diese Fächer sind zu trivial, weil nützlich. Als Auffangbecken für die nicht so begabten Bildungsbürgerkinder steht heute das Fach Deutsch bereit. Hier werden diese Fähigkeiten belohnt: schriftliches und mündliches Schwadronieren, Sich-gut-präsentieren-Können, Hauptsache, eine Meinung haben, den Gegenüber zutexten können.

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Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts existierten in Deutschland zwei Arten von Gymnasien: das „echte“, altsprachliche Gymnasium und das Realgymnasium. Die Bildungselite schickte ihre Kinder natürlich auf Ersteres; die Bildungsaufsteiger gingen auf das Realgymnasium, auf dem so furchtbar nützliche Fächer wie neue Sprachen und Naturwissenschaften schwerpunktmäßig unterrichtet wurden.

Mathematik und Naturwissenschaften sind bis heute der Aufstiegskanal für solche, die aus weniger privilegierten Familien kommen. Das hat praktische Gründe: Mathe ist verdammt billig. Man braucht neben Talent einen Taschenrechner oder ein Handy und einen Internetanschluss, früher ein paar Fachbücher.

MINT-Fächer als Aufstiegschance

Nur mit einem Block und einem Stift ausgestattet, kann ein Mathefreak stundenlang in selbst gestellten Aufgaben versinken. Man benötigt keine repräsentative Bücherwand, die man oder die Eltern sich in Jahrzehnten mühselig aufgebaut haben, um mitreden zu können.

Deshalb sind Mathe und Naturwissenschaften auch attraktiv für Migrantenkinder. Diese Fächer beruhen auf universell geltenden Gesetzen und Formeln, die für sie einfacher zu durchdringen sind als die Blackbox des deutschen Bildungsdünkels. Der Dreisatz und die Expontialrechnung gelten überall.

Die internationale Mathe-Community verständigt sich per Fach-Englisch, das aus einem relativ geringen Wortschatz besteht. Mathe ist inklusiv, nicht exklusiv. Genau deshalb sind die sogenannten MINT-Fächer, Mathe, Informatik, Naturwissenschaften, Technik, im deutschen Bildungsbürgertum verpönt, weil man über sie keine soziale Abgrenzung herstellen kann.

Die Corona-Katastrophe könnte etwas Gutes haben: dass man die Nerds aus dem Keller holt und in die oberen Etagen lässt, weil dort gerade Chaos und Überforderung herrschen.

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